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Überschallantrieb
Unsere Kinder sind chronisch gut gelaunt. Kaum schlagen sie die Augen auf, fällt ihnen schon etwas lustiges ein und sie kichern im Bett liegend vor sich hin. Im Badezimmer erzählen sie die ersten Witze, während ich noch damit beschäftigt bin, die Augen aufzukriegen.„Mama, was stinkt und wächst unter der Erde? Eine Furzel.“ Sie kugeln sich vor Lachen über die Badematte, obwohl sie den Witz schon 100 Mal erzählt haben. Ich nuschele dann etwas, das nach: „Ja, voll lustig“ klingt, versuche aber gleichzeitig das Thema auf etwas deprimierendes wie das große Artensterben oder die Abholzung der Regenwälder zu bringen, sonst geht das ohne Pause vom Frühstück bis zum Kindergartenbus so weiter.„Was…
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Herztonmusik
Ich höre am Schrei, dass der Fünfjährige sich ernsthaft verletzt hat. Es ist kein trotziges Brüllen, kein jämmerliches Klagen oder erschrockenes Weinen, es ist ein Schrei aus purem Schmerz. Sofort wird mir eiskalt und ich schalte in diesen entrückten Automaten-Modus, in dem man sich selbst erstaunt dabei zusieht, wie ruhig man alle wichtigen Handgriffe erledigt, während ein gut verpackter Teil tief in einem verzweifelt schreit und hyperventiliert. Ruhig stehe ich auf, atme tief durch und laufe zu meinem Kind. Der Fünfjährige liegt verdreht auf dem Rasen und wimmert immer wieder: Mama. Der Unterarmknochen ist seltsam verschoben, er ist eindeutig gebrochen. Als ich ihn vorsichtig berühre, schreit er vor Schmerz auf.…
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Mein Mann, der Zombie
Friedolin ist deutlich besser für Isolation gemacht als ich. Ihm reichen: „Steckst du noch ein Toast rein?“, „Besetzt!“ und „Willst du heute Abend noch was gucken?“ als zwischenmenschlicher Austausch am Tag. Wobei wir letzteres nur noch auf Englisch sagen. Sonst quengeln die Kinder, dass sie mit gucken wollen. Aber da sie ja schon von Sesamstraße Schnappatmung kriegen, sind deprimierende Netflix-Serien vermutlich eher nicht die geeignete Abendunterhaltung für sie. Für mich allerdings auch nicht. Seit Corona kann ich so was nicht mehr gucken. Ich sehe keinen Sinn darin, die Realität ist gerade deprimierend genug. Friedolin versteht das nicht:„Du hast doch sogar beim Stillen The Walking Dead geguckt.“„Aber mit den Zombies konnte…
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Das Licht stirbt
Mit jedem Tag versinkt die Sonne früher hinter den Hügeln. In der dunkelsten Zeit des Jahres entzünden wir unsere Adventskerzen, um uns auf die Ankunft vorzubereiten. Die Rückkehr der Sonne, die Ankunft Gottes Sohns, den Beginn eines neuen Jahres mit neuen Hoffnungen, Vorsätzen und Aufgaben. Früher bin ich in der Düsternis des Winters immer fürchterlich melancholisch und antriebslos gewesen. Seit ich auf dem Land lebe und die Zyklen der Natur viel stärker erlebe, erscheint mir der Winter als ebenso ein Wunder wie der Frühling. Die Pflanzen ziehen sich unter die Erde zurück, die Bäume verlagern ihre Kraft nach innen. Unsere Kaninchen haben flauschiges Winterfell bekommen und hocken dick und rund…
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Die suspekte Zahnfee
„Kann die Zahnfee Corona kriegen?“, fragt die Siebenjährige und legt ihren Schneidezahn unter ihr Kopfkissen.„Ich glaube nicht, sie ist ja ein Fabelwesen“, sage ich.„Das ist gut, sonst müsste sie ja 1,5 Meter Sicherheitsabstand halten und könnte sich den Zahn gar nicht holen“, sagt der Fünfjährige.„Können Fabelwesen denn nicht krank werden?“, will die Siebenjährige wissen.„Doch, wenn Menschen aufhören an sie zu glauben. Dann verschwinden sie einfach.“Seitdem meine Nichte mit großem Herzschmerz die erwachsene Wahrheit über den Weihnachtsmann herausgefunden hat, lasse ich bei der Existenzfrage von Symbolfiguren wie Osterhasen und Nikolaus gern ein leichtes Fragezeichen.„Was macht denn die Zahnfee mit den ganzen Zähnen?“, fragt der Fünfjährige.„Vielleicht sammelt sie die Zähne und macht…
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Chipsflixen
Friedolin möchte mich schlachten. Anders kann ich mir nicht erklären, warum er mein Gewicht mit Chips und Vanilleeis in die Höhe treibt. Vielleicht hat er im Darknet irgendeinen Kannibalen-Club aufgetan und hofft, mit seiner dicken Frau noch ein paar Euros dazu zu verdienen. Seit Corona suchen ja alle Künstler verzweifelt nach neuen Geschäftsideen. Und ich falle jeden Abend drauf herein. Wir haben gesund zu Abend gegessen mit Gartenkräuter-Tee, Bio-Vollkornbrot und Rohkost, die Kinder schlafen, Friedolin und ich brechen erschöpft auf dem Sofa zusammen und nach einer Weile lässt er ganz beiläufig diesen perfiden Satz fallen: „Irgendwie hab ich noch Hunger…“ Und bevor ich „Einspruch“ brüllen kann, ist er schon aus…
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FSK-Lyrik
Ich fordere eine FSK-Kennzeichnung für Gedichte. Gestern Abend ist der Fünfjährige irgendwo zwischen Goethe und Heine zitternd zurückgeblieben. Weil er oben auf seinem Hochbett kauerte, habe ich es zu spät bemerkt. Irgendwann kam ein gedämpftes Stimmchen unter der Bettdecke hervor: „Ich schwitze so unter der Decke, aber ich habe solche Angst, dass ich sie nicht wegnehmen kann.“ Es war fast Neun, als die verängstigten Kinder mich endlich aus dem Zimmer ließen.Begonnen hatte alles damit, dass wir im Wartezimmer beim Arzt ein Pixie-Buch angeschaut hatten, in dem die Mutter beim Zubettbringen Gedichte vorlas.„Können wir das auch mal machen“, fragte die Siebenjährige und ich sagte ahnungslos: „Ja, das ist bestimmt schön.“Am ersten…
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Achtsamkeit, my ass!
Um mich herum betreiben jetzt alle die neue Trendsportart Achtsamkeit. Eine Freundin schickte mir die Zeilen eines Zen-Priesters:„Jetzt nehme ich mir Zeit, Kartoffeln zu schälen, Salat zu waschen und Rüben zu kochen, den Boden zu schrubben, Waschbecken sauber zu machen und Müll rauszubringen. Versunken im Alltag habe ich Zeit, mich zu lösen, mich zu entspannen, den ganzen Körper.“Ganz ehrlich, der Typ hat doch bestimmt keine Kinder. Und wenn ja, kümmert sich seine Frau um sie, während er achtsam den Boden wischt. Früher, ja früher konnte ich mich beim Putzen auch entspannen und hinterher im Einklang mit mir und meiner Wohnung die Ordnung und Klarheit genießen. Heutzutage putze ich mit zwei…
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Sexualkunde mit Regenwürmern
Der Tierarzt knallt eine Schale mit blutigen Kaninchenhoden auf den Tisch. „So, das sind sie“, sagt er. „Äh, danke?“ sage ich und schaue in die Transportbox. Der kleine Kastrat liegt benommen in der Ecke hinter Gittern. So sähe eine Folge Kaninchen-Game-of-Thrones aus, denke ich. Der Fünfjährige wendet sich ab und verbirgt sein Gesicht in den Händen. Hätte ich geahnt, dass uns die Beweismittel der Kastration hinterher präsentiert werden, hätte ich ihn im Auto warten lassen. Er hat vor kurzem verstanden, was es mit den Hoden auf sich hat, und fühlt mit dem kleinen Farinelli. 500 Milliarden Spermien produzieren die Hoden in einem Männerleben, das ist schon ein kleines Wunder. Der…
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Die Event-Beerdigung
Wir überlegen, wen wir umbringen sollen, damit unsere Tochter in zwei Wochen ihren 7. Geburtstag feiern kann. Beerdigungen sind ja wieder erlaubt. Unser Huhn Miss Granger ist vor ein paar Tagen gestorben, vielleicht können wir das im kleinen Kreis mit den Nachbarskindern an ihrem Geburtstag beerdigen. Dafür müssten wir es allerdings erstmal exhumieren. Hinterher natürlich gut Händewaschen und zweimal Happy Birthday singen. Am Geburtstag macht das ja endlich mal Sinn. Oder wir spendieren allen eingeladenen Kindern einen neuen Haarschnitt, die Frisöre sind ja wieder geöffnet. Oder Friedolin und ich vollziehen eine Blitzscheidung und heiraten wieder an ihrem Geburtstag. Vorzugsweise jemand anderen. Nach sieben Wochen Quarantäne können wir ein bisschen Abwechslung…