Winter

Das Licht stirbt

Mit jedem Tag versinkt die Sonne früher hinter den Hügeln. In der dunkelsten Zeit des Jahres entzünden wir unsere Adventskerzen, um uns auf die Ankunft vorzubereiten. Die Rückkehr der Sonne, die Ankunft Gottes Sohns, den Beginn eines neuen Jahres mit neuen Hoffnungen, Vorsätzen und Aufgaben. Früher bin ich in der Düsternis des Winters immer fürchterlich melancholisch und antriebslos gewesen. Seit ich auf dem Land lebe und die Zyklen der Natur viel stärker erlebe, erscheint mir der Winter als ebenso ein Wunder wie der Frühling. Die Pflanzen ziehen sich unter die Erde zurück, die Bäume verlagern ihre Kraft nach innen. Unsere Kaninchen haben flauschiges Winterfell bekommen und hocken dick und rund unter dem Apfelbaum, um das letzte Laub zu fressen.
In alten Zeiten schöpfte die Muttergöttin in der Ruhe des Winters Kraft. Sie behütete die Pflanzen und Tiere, die mit in ihr lichtdurchflutetes Reich unter der Erde gekommen waren. Der Winter war ein langes stilles Einatmen und Innehalten. Sie bereitete sich auf die Geburt des Sonnengottes vor, der nach seinem Tod am 21. Dezember schließlich wiedergeboren wurde. Dieses Motiv der Wiedergeburt des Lichtes zieht sich durch alle Kulturen und Zeiten. Es war so tief im kollektiven Gedächtnis verankert, dass die christliche Kirche schließlich Jesu Geburt vom ursprünglich 6. Januar im Jahr 336 auf den 25. Dezember verlegte. Die Römer hatten an diesem Tag den Geburtstag ihres Sonnengottes Sol Invictus gefeiert, ebenso die Anhänger des orientalischen Mithras-Kultes, die nordischen Heiden zelebrierten ihre Jul-Feste. Streng genommen ist das Christentum ja eine Patchwork-Religion, die im Laufe der Jahrhunderte Mythen und Bräuche anderer Religionen integriert und umerzählt hat, wenn sie sich nicht ausmerzen ließen. Ich finde es immer wieder spannend, an dieser Patina zu kratzen und die alten Schichten darunter zu entdecken. Die Parallelen in den uralten Erzählungen zu entdecken, die sich vom hohen Norden der Wikinger bis in den tiefen Süden der Griechen und Perser finden lassen. Bevor es die heutige Wissenschaft gab, haben sich die Menschen den Kreislauf der Natur in Mythen und Ritualen verdeutlicht und erklärt. Erst das Christentum hat sich von diesem uralten Kreislauf gelöst und das Kirchenjahr anhand des Leben, Leiden und Sterben eines Mensch gewordenen Gottes ausgerichtet, was eher einer linearen Erzählung gleicht als die immer wiederkehrenden Zyklen der Natur.
Ich frage mich manchmal, ob neben all den Skandalen auch das einer der Gründe ist, warum die Kirchen mit immer mehr Austritten zu kämpfen haben. Die Menschen sehnen sich nach mehr Verbundenheit mit der Natur. Je mehr sie zerstört wird, je weniger wir in unserem hochtechnisierten Alltag in Kontakt mit ihr treten können, desto kostbarer und heiliger erscheint sie uns. Vielleicht ist das eine Zukunftschance der Kirche, die Naturverbundenheit und Naturverehrung stärker in ihr Patchwork-Muster zu weben. Gerade in Zeiten von Pandemien können Gottesdienste in Parks und Wäldern, an Quellen, Flüssen und Seen vielleicht mehr Menschen anlocken, als Zeremonien in von Menschen erbauten steinernen Innenräumen.

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