• Gesellschaft,  Kinder

    Nur ein Geschenk pro Kind

    „SPECHTI!“ Der Fünfjährige steht weinend im Garten. Er hat seinen Playmobil-Specht verloren. „Spechti!“ Wieder und wieder ruft er und lauscht auf eine Antwort, die nicht kommt. Natürlich hatte ich vorher gesagt: „Nimm ihn nicht mit raus, der geht verloren.“ Und wie immer hatte er geantwortet: „Ich pass schon auf.“ Jetzt muss die ganze Familie unseren wilden Garten nach einem daumennagelgroßen Plastikspecht durchsuchen, an dem ein fünfjähriges Herz hängt. Ich glaube, kleinteiliges Spielzeug wurde einzig und allein entwickelt, um Eltern mit ständigem Suchen zu beschäftigen, damit sie keinen klaren Gedanken fassen können, zum Beispiel, ob dieses ganze Kapitalismusding wirklich sein muss und Kinder zu ihrem fünften Geburtstag unbedingt 30 Geschenke brauchen,…

  • Mamaaa!!!

    Zeitraffer

    „Ich müsste dringend mal früher ins Bett, aber dann hätte ich gar keine Zeit mehr für mich.“Das ist seit Corona der häufigste Satz, den ich von Müttern höre. Was haben wir früher bloß mit der ganzen Zeit angefangen? Als die Kinder noch jeden Morgen das Haus verließen? Wisst ihr noch, wie schön dieses Gefühl war, von kleinen Armen zum Abschied umfasst zu werden, ein Kuss auf ihren duftenden Scheitel, nein, Mama, du musst mich nicht bis zur Bushaltestelle bringen, was sollen denn die anderen Kinder denken…Ich vermisse es, die Kinder zu vermissen.Zugegeben, ich vermisse es nicht, um 6:30 Uhr aufzustehen, Schulbrote zu schmieren und nachmittags als Mama-Kutsche diverse Freizeitaktivitäten anzusteuern.…

  • Mamaaa!!!

    Achtsamkeit, my ass!

    Um mich herum betreiben jetzt alle die neue Trendsportart Achtsamkeit. Eine Freundin schickte mir die Zeilen eines Zen-Priesters:„Jetzt nehme ich mir Zeit, Kartoffeln zu schälen, Salat zu waschen und Rüben zu kochen, den Boden zu schrubben, Waschbecken sauber zu machen und Müll rauszubringen. Versunken im Alltag habe ich Zeit, mich zu lösen, mich zu entspannen, den ganzen Körper.“Ganz ehrlich, der Typ hat doch bestimmt keine Kinder. Und wenn ja, kümmert sich seine Frau um sie, während er achtsam den Boden wischt. Früher, ja früher konnte ich mich beim Putzen auch entspannen und hinterher im Einklang mit mir und meiner Wohnung die Ordnung und Klarheit genießen. Heutzutage putze ich mit zwei…

  • Sommer,  unser Dorf

    Das Paradies dichte bi

    Abtauchen, das Wasser rauscht an meinen Ohren vorbei, für einen Moment in der Tiefe schweben, in einem Fächer aus Sonnenstrahlen, Stille. Zarte Schwanenfedern treiben wie Miniatursegel über mich hinweg, Wasserläufer balancieren mit gespreizten Gliedern an der Oberfläche. Auftauchen, atmen, auf dem Rücken treiben und in die Wolken schauen. Der Milan zieht seine Kreise über mir, unter mir liegt der lange Wels tief am kiesigen Grund. Manchmal kann ich ihn denken hören, dunkel und grün. Neben mir gleitet die Siebenjährige durchs Wasser. Sie ist ein Wassermädchen und schwimmt seit sie Vier ist wie eine Robbe durch den See. Der Fünfjährige keschert in Ufernähe Teichmuscheln und beobachtet Libellen. Unser See ist kein…

  • Mamaaa!!!

    Putzmann für einen Tag

    „Mama, Mama, bei unseren Nachbarn kann man sich im Boden spiegeln!“ Die Siebenjährige ist völlig außer sich. „Und alles ist total aufgeräumt, das musst du dir mal ansehen.“ Nix muss ich. Unser Fußboden ist Teil meiner ausgeklügelten Einbruchsicherung. Wenn Einbrecher ins Haus kommen, bleiben sie einfach kleben und wir können in aller Ruhe die Polizei rufen. Aber ich möchte natürlich, dass die Kinder glücklich sind.„Gut“, sage ich. „Dann höre ich jetzt auf, Euch ein Buch vorzulesen und wische das Erdgeschoss.“„So habe ich das auch nicht gemeint.“ Die Ordnung fasziniert sie zwar. Aber sie ist alt genug, um zu würdigen, dass ich als berufstätige Mutter meine freie Zeit lieber mit meinen…

  • Sommer,  unser Garten

    Unser Hochsicherheitstrakt

    Die Johannisbeeren sind reif. Also beginnt Friedolin, nervös um die Küche herumzuschleichen. Ich könnte ja spontan auf die Idee kommen, Marmelade einzukochen. Da will er rechtzeitig intervenieren können. Wobei ich bezweifele, dass dieses Jahr viel zum Einkochen übrig bleibt. Unsere marodierenden Kinderhorden lassen kaum etwas übrig. Sollen sie ruhig, ich nasche Himbeeren, Erdbeeren und Zuckererbsen auch am liebsten direkt vom Strauch. Einzig die Johannis – und Jostabeerensträucher hängen noch voll, die sind den Kindern zu sauer. Aber die machen auch die schlimmsten Flecken.Friedolin und ich sind sehr unterschiedlicher Meinung, wie man Marmelade einkochen sollte. Seiner Ansicht nach müsste ich zunächst unsere stets vollgestellte Arbeitsplatte freiräumen, großräumig mit Zeitung oder dünnen…

  • Paar

    Hochzeitstag

    Friedolin und ich haben heute Hochzeitstag. Nicht, dass diese Information für irgendjemanden relevant wäre. Wir feiern unseren Hochzeitstag nämlich nicht. Am ersten Hochzeitstag war unsere Tochter gerade geboren, da hatten wir unser Kind im Kopf und nicht uns. Im zweiten Jahr waren wir mit Kind und Campingbus ohne Zeitgefühl in Schweden unterwegs. Ab da haben wir den Tag konsequent vergessen. Vielleicht auch verdrängt. Was daran liegen könnte, dass wir ein ziemlich zwiespältiges Gefühl zu unserer Hochzeit haben. Unsere Gäste sind bis heute der einmütigen Auffassung, dass es ein wunderbar rauschendes Fest war. Zwei Tage voller Liebe und Freundschaft und Natur, voller Spiele, Feiern und Musik.Wir waren einfach nur brettfertig.Was vielleicht…

  • Gesellschaft

    Unser Land ist bunt (unser Dorf ist es nicht)

    Unser Dorf ist eine Blase. Bei der Einschulung unserer Tochter waren fast alle Kinder blond und blauäugig. Manche Eltern stellen einen Sonderantrag, damit ihr Kind auf so eine Schule gehen darf. Ich verspürte bei diesem Anblick leises Unbehagen. Denn unser Land ist nicht blond und blauäugig. Unser Land ist bunt. Ich möchte, dass unsere Kinder das als selbstverständlich empfinden. Ich möchte nicht, dass sie später Schwarze oder Menschen of Colour fragen, woher sie kommen, weil sie annehmen, dass es nicht Deutschland sein kann, dass sie nicht dazu gehören. Alltagsrassismus ist nicht immer böswillig, manchmal entsteht er aus Unachtsamkeit, aus Dummheit, Unwissenheit, aus Angst vor Benachteiligung. Er verletzt deswegen nicht weniger.…

  • Sommer

    Mittsommer

    Sommersonnenwende. An diesem Wochenende feiern wir den längsten Tag des Jahres und den Geburtstag des Vierjährigen, der ab heute der Fünfjährige genannt werden möchte. Er ist ein richtiger Mittsommerjunge, mit Sonne im Herzen und einem lichten Gemüt. Gefühlt und astronomisch beginnt jetzt der Sommer: die Früchte reifen, die Blumen blühen, die Natur berauscht uns mit Fülle und Duft und Farbe. Gleichzeitig befinden wir uns auf dem Zenit, ab jetzt bewegt sich die Sonne langsam wieder abwärts in Richtung Dunkelheit. Die Erzählung des Sonnen- oder Vegetationsgottes, der sich auf dem Höhepunkt seiner Kraft für seinen Opfertod vorbereitet, zieht sich durch alle Zeiten: Adonis, Baldur, Dionysos, Osiris und im Christentum die Enthauptung…