Mittsommer
Sommersonnenwende. An diesem Wochenende feiern wir den längsten Tag des Jahres und den Geburtstag des Vierjährigen, der ab heute der Fünfjährige genannt werden möchte. Er ist ein richtiger Mittsommerjunge, mit Sonne im Herzen und einem lichten Gemüt. Gefühlt und astronomisch beginnt jetzt der Sommer: die Früchte reifen, die Blumen blühen, die Natur berauscht uns mit Fülle und Duft und Farbe. Gleichzeitig befinden wir uns auf dem Zenit, ab jetzt bewegt sich die Sonne langsam wieder abwärts in Richtung Dunkelheit. Die Erzählung des Sonnen- oder Vegetationsgottes, der sich auf dem Höhepunkt seiner Kraft für seinen Opfertod vorbereitet, zieht sich durch alle Zeiten: Adonis, Baldur, Dionysos, Osiris und im Christentum die Enthauptung des Johannes.
Früher glaubten die Menschen, dass an Sommer- und Wintersonnenwende die Tore zur Anderswelt weit geöffnet sind. Im Volksglauben waren es Tage voller Magie. Elfen tanzten, Naturgeister wisperten in den Bäumen und Pflanzen entfalteten ihre magische Wirkung. Dem Tau aus der Sonnenwendnacht sagte man Zauberkräfte für Mensch und Tier nach.
Ich sammele in diesen Tagen Heilkräuter für Tee und Tinkturen, die Konzentration der ätherischen Öle ist jetzt am höchsten. Sie trocknen an Leinen im Schuppen oder im Trockenschrank, werden für den Winter in Schraubgläsern bewahrt, mit Alkohol ausgezogen oder in Öl eingelegt. Wir sammeln Kräutersträußchen, die in den kommenden Monaten als Talismane über unserem Kopfkissen hängen. Neun Kräuter müssen es sein, Neun als uralte magische Zahl der Kräuterkundigen. Aller guten Dinge sind Drei. Und drei mal drei macht Neun. Früher nähte man den Kindern getrocknete Sonnenwendkräuter als Schutz in die Kleidung, gegen Krankheit, Blitzschlag oder böse Blicke. Oder sie trugen sie in einem Säckchen als Amulett um den Hals. Eisenkraut, Beifuß, Johanniskraut, Quendel, Wegwarte, Kamille, Wiesenmargerite, Arnika, Holunder.
Am Abend entzünden wir unser Sonnenwendfeuer. Die Kräutersträußchen vom vergangenen Sommer übergeben wir zusammen mit einem Wunsch den Flammen. Wendepunkte der Sonne sind die richtige Zeit, um Wünsche für die Zukunft zu äußern und dem nachzuspüren, was vergangen ist. Die letzten drei Monate waren für viele Menschen eine Zeit der Ängste, des Rückzugs, der Unsicherheit. Hoffentlich dürfen wir das jetzt hinter uns lassen und den Sommer mit offenen Armen empfangen.