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Verarmungswahn
Friedolin hat entschieden, dass wir erst im Winter heizen. Weil der Gaspreis um 11 Prozent gestiegen ist.„Aber ich hab so kalte Füße“, sagt der Sechsjährige.Friedolin bleibt eisern. „Dann zieh halt noch ein paar Strümpfe drüber.“„Ich hab schon zwei Paar an.“In unserem Haus läuft alles mit Gas: Heizung, Warmwasser, Herd.Also wird Duschen und Kochen auch rationalisiert.„Die Nudeln sind heute aber knackig“, sagt die Achtjährige und zerbeißt geräuschvoll die halbgaren Nudeln.„Genieß deine Spaghetti, so lange es noch welche gibt. Der Nudelpreis soll auch steigen“, sagt Friedolin.Unser altes Fachwerkhaus ist ohnehin immer kalt, aber langsam nimmt es arktische Ausmaße an.„Kriegen wir wenigstens einen Eisbären als Haustier?“, fragt der Sechsjährige bibbernd.Die Kinder gehen in…
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Unser Dorf ist Halloween-Sperrgebiet. Dafür brauchen wir Corona nicht. Letztes Jahr sind drei Jungs mit schwarzen Umhängen durchs Dorf gezogen und haben halbherzig an ein paar Türen geklingelt. Die Antwort fiel immer gleich aus: „Ihr habt euch wohl im Tag geirrt! Kommt am Martinstag wieder, dann gibt’s was.“ Bei uns hat niemand geklingelt, ich hätte aber das gleiche gesagt. Da bin ich konservativ. In meiner Heimatstadt Hannover verdrängt Halloween den Martinstag zusehends. Hier auf dem Dorf halten wir noch wacker an der alten Tradition fest. Ich finde schade, wenn der rituelle Ursprung von Festen völlig von Kommerz und Krawall überlagert wird. Am Martinstag wird der Heischebrauch immerhin noch mit der…
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Der Unglücksglückstag
Heute ist Freitag der 13. Ein absoluter Glückstag. Es sei denn, man ist zutiefst katholisch und nennt die 13 immer noch unheilvoll das „Teufelsdutzend“. Ich halte es mit dem alten Glauben, wonach die 13 heilig und eine Glückszahl ist. Die Frühkulturen maßen die Zeit mit den Zyklen des Mondes, ein Mondjahr bestand aus 13 Vollmonden. Auch im Judentum ist die 13 eine Glückszahl. Der Aberglaube von Freitag, den 13. geht vermutlich auf das neue Testament zurück. Beim Abendmahl war Judas Ischariot der 13. Gast und Jesus starb an einem Freitag am Kreuz, et voilà, Freitag, der 13. Dabei sind Freitage ja eigentlich ganz wunderbare Tage, sie leiten das Wochenende ein…
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Altweibersommer
Die Mauersegler sind fort. Der Himmel über unserem Garten ist seltsam still und leer. Früh morgens auf dem Weg zum Kindergartenbus schmeckt die Luft schon nach Laub und Fallobst und Abschied. Der Fünfjährige bläst Atemwolken vor sich in die kalte Luft wie eine Miniatur-Dampflok und sammelt unreife Albino-Kastanien. Die Siebenjährige ist mit Tierhaaren übersät, unsere Kaninchen bekommen Winterfell. Ich frage mich, ob ich je wieder Winterfell sagen kann, ohne an Game of Thrones zu denken. Die Hühner haben die Mauser beendet und uns ihre filigran gemusterten Federn überlassen. Jetzt legen sie wieder Eier, bevor sie für die dunkle Jahreszeit endgültig pausieren. Ich trockne Kaninchenfutter und Teepflanzen. Wenn wir sie im…
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Herbst Tag-und-Nacht-Gleiche
Das Licht verabschiedet sich. Von heute an übernehmen die Nächte die Vorherrschaft, die Tage werden kürzer. Noch stehen wir mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Aber schon bald werde ich die Kinder in absoluter Finsternis wecken und die Siebenjährige im Licht der einsamen Straßenlaterne zum Bus laufen sehen. Gestern haben wir zur Tag-und-Nacht-Gleiche unser erstes Herbstfeuer entzündet. Die Kinder schmückten unseren Jahreszeitenaltar mit Kastanien, Zapfen, Hortensienblüten und Kürbis. Friedolin röstete Räuberfladen über dem Feuer. Die Geduld der Kinder reicht immer nur für ein Stockbrot, den restlichen Teig backen wir in Fladen über der Glut. Eigentlich wollte ich ein Räucherritual zelebrieren und die Naturgeister um Schutz für die dunkle Jahreszeit bitten. Johanniskraut…