• Kinder

    Überschallantrieb

    Unsere Kinder sind chronisch gut gelaunt. Kaum schlagen sie die Augen auf, fällt ihnen schon etwas lustiges ein und sie kichern im Bett liegend vor sich hin. Im Badezimmer erzählen sie die ersten Witze, während ich noch damit beschäftigt bin, die Augen aufzukriegen.„Mama, was stinkt und wächst unter der Erde? Eine Furzel.“ Sie kugeln sich vor Lachen über die Badematte, obwohl sie den Witz schon 100 Mal erzählt haben. Ich nuschele dann etwas, das nach: „Ja, voll lustig“ klingt, versuche aber gleichzeitig das Thema auf etwas deprimierendes wie das große Artensterben oder die Abholzung der Regenwälder zu bringen, sonst geht das ohne Pause vom Frühstück bis zum Kindergartenbus so weiter.„Was…

  • Kinder

    FSK-Lyrik

    Ich fordere eine FSK-Kennzeichnung für Gedichte. Gestern Abend ist der Fünfjährige irgendwo zwischen Goethe und Heine zitternd zurückgeblieben. Weil er oben auf seinem Hochbett kauerte, habe ich es zu spät bemerkt. Irgendwann kam ein gedämpftes Stimmchen unter der Bettdecke hervor: „Ich schwitze so unter der Decke, aber ich habe solche Angst, dass ich sie nicht wegnehmen kann.“ Es war fast Neun, als die verängstigten Kinder mich endlich aus dem Zimmer ließen.Begonnen hatte alles damit, dass wir im Wartezimmer beim Arzt ein Pixie-Buch angeschaut hatten, in dem die Mutter beim Zubettbringen Gedichte vorlas.„Können wir das auch mal machen“, fragte die Siebenjährige und ich sagte ahnungslos: „Ja, das ist bestimmt schön.“Am ersten…

  • Herbst

    Altweibersommer

    Die Mauersegler sind fort. Der Himmel über unserem Garten ist seltsam still und leer. Früh morgens auf dem Weg zum Kindergartenbus schmeckt die Luft schon nach Laub und Fallobst und Abschied. Der Fünfjährige bläst Atemwolken vor sich in die kalte Luft wie eine Miniatur-Dampflok und sammelt unreife Albino-Kastanien. Die Siebenjährige ist mit Tierhaaren übersät, unsere Kaninchen bekommen Winterfell. Ich frage mich, ob ich je wieder Winterfell sagen kann, ohne an Game of Thrones zu denken. Die Hühner haben die Mauser beendet und uns ihre filigran gemusterten Federn überlassen. Jetzt legen sie wieder Eier, bevor sie für die dunkle Jahreszeit endgültig pausieren. Ich trockne Kaninchenfutter und Teepflanzen. Wenn wir sie im…

  • mit Kindern auf Tour

    Hotelentzug

    „Müsst ihr wirklich wegfahren“, hatte mich die Siebenjährige vor unserer Abreise unglücklich gefragt.„Wir müssen ja Geld verdienen“, sagte ich und lud meinen Ukulelen-Koffer ins Auto.„Ihr könnt doch einfach zu so einem Automaten gehen und euch da Geld holen“, schlug sie vor.„Aber dafür muss ich vorher erstmal Geld in den Automaten rein tun“, sagte ich und gab ihr zum Abschied einen Kuss. Die Kinder waren streng genommen nicht betrübt, dass wir wegfahren. Sondern, dass sie nicht mitdurften. Die Siebenjährige muss schließlich zur Schule. Seit ihrer Einschulung ist unser Leben noch komplizierter geworden. Unsere Agentin hatte uns dieses Jahr tollerweise drei große Touren mit den Kindern in den Oster-, Sommer- und Herbstferien…

  • Kinder

    Kunstkritik am Kind

    Der Fünfjährige macht jetzt in Bildende Kunst. Seine derzeitige Schaffensperiode heißt: Vor der zweiten Welle. Es ist viel Tesafilm involviert. Connoisseure performativer Gegenwartskunst konnten kürzlich Zeuge werden, wie in einem scheinbar zerstörerischen Akt eine langstielige Sukkulente in ihre Einzelteile zerlegt und mit einem Küchenmesser ihrer schützenden Außenhaut beraubt wurde. Dabei ging der Künstler ironisch auf das geltende Abstandsgebot ein, indem er als Teil der Performance Pflanzenteile in einem Umkreis von exakt anderthalb Metern von sich schleuderte. Anschließend applizierte er das organische Material mit Tesafilm auf einem DIN-A4 Blatt. In der Transformation von Natur zu Kultur wurde das Spannungsfeld zwischen Chaos und Norm erfahrbar. Der Tesafilm, als Inbegriff der Wegwerfgesellschaft, beraubt…

  • Herbst

    Herbst Tag-und-Nacht-Gleiche

    Das Licht verabschiedet sich. Von heute an übernehmen die Nächte die Vorherrschaft, die Tage werden kürzer. Noch stehen wir mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Aber schon bald werde ich die Kinder in absoluter Finsternis wecken und die Siebenjährige im Licht der einsamen Straßenlaterne zum Bus laufen sehen. Gestern haben wir zur Tag-und-Nacht-Gleiche unser erstes Herbstfeuer entzündet. Die Kinder schmückten unseren Jahreszeitenaltar mit Kastanien, Zapfen, Hortensienblüten und Kürbis. Friedolin röstete Räuberfladen über dem Feuer. Die Geduld der Kinder reicht immer nur für ein Stockbrot, den restlichen Teig backen wir in Fladen über der Glut. Eigentlich wollte ich ein Räucherritual zelebrieren und die Naturgeister um Schutz für die dunkle Jahreszeit bitten. Johanniskraut…