• Herbst

    Unser Dorf ist Halloween-Sperrgebiet. Dafür brauchen wir Corona nicht. Letztes Jahr sind drei Jungs mit schwarzen Umhängen durchs Dorf gezogen und haben halbherzig an ein paar Türen geklingelt. Die Antwort fiel immer gleich aus: „Ihr habt euch wohl im Tag geirrt! Kommt am Martinstag wieder, dann gibt’s was.“ Bei uns hat niemand geklingelt, ich hätte aber das gleiche gesagt. Da bin ich konservativ. In meiner Heimatstadt Hannover verdrängt Halloween den Martinstag zusehends. Hier auf dem Dorf halten wir noch wacker an der alten Tradition fest. Ich finde schade, wenn der rituelle Ursprung von Festen völlig von Kommerz und Krawall überlagert wird. Am Martinstag wird der Heischebrauch immerhin noch mit der…

  • Kinder

    Mörderballaden

    Unsere Kinder haben einen morbiden Musikgeschmack. Sie lieben Mörderballaden wie die Moritat von Mackie Messer oder die Ballade von der Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper. Wenn Jenny ihren Piraten befiehlt, alle Gefangenen zu töten, singen sie fröhlich mit: „Und wenn dann der Kopf fällt, sage ich: Hoppla!“ Sie hüpfen aufgeregt kichernd im Kreis und gruseln sich. Ihr aktuelles Lieblingslied ist Bidla Bu von Georg Kreisler, in dem ein Mann seine Geliebten der Reihe um die Ecke bringt, damit die Liebe nicht verblasst. Natürlich ist es wichtig, bei solchen Liedern die Kinder liebevoll zu begleiten. „Mama, was ist Strychnin?“„Ein wirksames Gift, das einen sofort tötet.“„Aha.“ „Und wozu braucht man Petroleum?“„Damit zündet er…

  • mit Kindern auf Tour

    Die Hotelolympiade

    Die Kinder erklären die erste Hotelzimmerolympiade für eröffnet. Zu den Disziplinen gehören Bettvorlegerweitrutschen, Bettgestellkunstturnen, Fensterbankhochsprung, Unterdembettextremrobbing und Dauerduschen. Zum Glück sind durch das Beherbergungsverbot nicht alle Zimmer belegt. Die Disziplinen sind alles andere als geräuscharm. Aber es regnet in Strömen und sie müssen sich die lange Autofahrt aus den Gliedern zappeln. Schließlich entdeckt der Fünfjährige eine Schafherde auf dem Hang unterhalb des Hotels und verbringt den restlichen Aufenthalt auf der Fensterbank. Eine weiße Ziege hat es ihm besonders angetan, er kommentiert jeden ihrer Schritte:„Jetzt läuft sie quer über die Wiese. Jetzt stellt sie sich auf die Hinterbeine und frisst Blätter. Die kann bestimmt auch auf Bäume klettern, wie die Ziegen…

  • Corona-Chronik,  Kinder

    Unser Reichtum

    „Kinder, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für euch“, sagte ich gestern beim Abendessen. Ich hatte einen riesigen Topf Nudeln gekocht, wir brauchten alle etwas Nervennahrung. Zwei kleine Gabeln blieben erwartungsvoll in der Luft hängen, vier blitzblaue Augen schauten mich an.„Die gute Nachricht ist: Papa und ich gehen den ganzen November nicht auf Tour und haben viel Zeit für euch“, sagte ich. Mäßiger Jubel am Tisch. Ich hatte mir fest vorgenommen, die Kinder nichts von unseren Sorgen über diesen erneuten Lockdown spüren zu lassen. Meine Eröffnung fand ich schonmal ziemlich gelungen.„Und was ist die schlechte Nachricht?“, fragt die Siebenjährige.„Sag: Ihr müsst eure sündhaft teuren Steiff-Tiere zurück geben, weil…

  • Backstage

    Nachts im Theater

    Und dann wurde es plötzlich eine dieser glitzernden Nächte, dieser seltenen tiefblauen Stunden, die man niemals so planen kann, weil sich ihr Zauber nur im flüchtigen Moments entfaltet. Die Tontechniker hatten die Bühne abgeräumt, die Zuschauer lagen in ihren Betten und die Musiker standen mit Jacken und Instrumentenkoffern im leeren Saal. Und dann setzte sich der Chansonnier Sebastian Krämer doch noch für ein letztes Lied ans Klavier. Und der klassische Pianist Christian Fritz gesellte sich zum ihm und beide begannen, vierhändig zu improvisieren. Natürlich mit 1,5 Meter Sicherheitsabstand zwischen sich auf dem Klavierhocker. Sie spielten mit einem entrückten Lächeln, einer Selbstvergessenheit und Verspieltheit, die so in der konzentrierten Professionalität des…

  • Kinder,  Urlaub

    Die Entdeckung des Schneckentempos

    Die Kinder trinken die erste Orangina ihres Lebens. Der Fünfjährige bricht in so lautstarke Rufe des Entzückens aus, dass die Gäste an den Nachbartischen irritiert zu uns schauen. Vielleicht denken sie, dass wir eine jugendfreie Variante der Restaurantszene aus Harry & Sally drehen. Die Siebenjährige schließt genießerisch die Augen. Friedolin hat seinen Kaffee bereits vor 10 Minuten ausgetrunken und trommelt nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Die Kinder spielen „Wer-am-langsamsten-Trinken-kann“. Sie stellen nach jedem winzigen Schluck ihre Flaschen vor sich auf den Tisch, richten sie penibel zueinander aus und vergleichen die Pegelstände. Friedolin wippt mit dem Knie. Dann diskutieren die Kinder ihre Pegelstände und heben die Flasche in Zeitlupe…