Die Entdeckung des Schneckentempos
Die Kinder trinken die erste Orangina ihres Lebens. Der Fünfjährige bricht in so lautstarke Rufe des Entzückens aus, dass die Gäste an den Nachbartischen irritiert zu uns schauen. Vielleicht denken sie, dass wir eine jugendfreie Variante der Restaurantszene aus Harry & Sally drehen. Die Siebenjährige schließt genießerisch die Augen. Friedolin hat seinen Kaffee bereits vor 10 Minuten ausgetrunken und trommelt nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Die Kinder spielen „Wer-am-langsamsten-Trinken-kann“. Sie stellen nach jedem winzigen Schluck ihre Flaschen vor sich auf den Tisch, richten sie penibel zueinander aus und vergleichen die Pegelstände. Friedolin wippt mit dem Knie. Dann diskutieren die Kinder ihre Pegelstände und heben die Flasche in Zeitlupe an die Lippen, um erneut einen winzigen Schluck zu trinken. Friedolin schnauft: „Wenn ihr keinen Durst habt, kann ich das auch für euch austrinken.“ Lautstarkes Protestgeheul. „Wir müssen die letzte Seilbahn noch kriegen“, sagt er. Was natürlich Unsinn ist, da die letzte Seilbahn erst in einer Stunde fährt, das sollten wir ja wohl schaffen. Die Kinder trinken noch ein winzigen Schluck. Na, gut, vielleicht schaffen wir die letzte Seilbahn. Aber wir sind im Harz und nicht in den Alpen, zur Not wandern wir zurück ins Tal. Den Weg rauf haben wir ja auch geschafft. Friedolin wippt immer schneller. Er ist wirklich gestraft mit dieser Familie. Beim Mittagessen hat er meist schon zwei Teller verschlungen, während wir noch in unserer ersten Portion picken. Dann fragt er im Fünfminutentakt, ob jemand noch einen Nachschlag möchte. Es ist mir ein Rätsel, warum unsere Kinder so groß und kräftig sind. Meist isst Friedolin unseren Nachschlag einfach selbst auf, nur damit das Mittagessen endlich ein Ende hat.
Mittlerweile sage ich in diesen Situationen einfach: „Geh doch schonmal vor, wir treffen uns dann dort.“ Dann schlendere ich gemütlich mit den Kindern hinterher. Friedolin kann ja in der Zwischenzeit irgendetwas wichtiges erledigen. Einen Baum fällen, ein Wildschwein häuten oder wozu auch immer seine ungeduldigen Gene ihn da drängen.
Ich weiß genau, wie er sich fühlt. Ich habe eine extrem schnelle Auffassungsgabe, Gruppenarbeiten in der Schule oder an der Uni waren für mich immer eine Qual.
Aber ich liebe es, mich auf das langsame Tempo der Kinder einzulassen. Meine Gedanken kommen nie zum Stillstand, ich schlafe abends schlecht ein und tue beim Yoga immer nur so, als würde ich meditieren. Die Kinder helfen mir, mehr im Moment zu sein und nicht schon drei Schritte voraus. Mich ganz und gar einer Beobachtung, einem Geschmack zu widmen und nicht währenddessen To-Do-Listen durchzugehen. Das Leben wird so viel leichter, wenn man sich auf das Tempo der Kinder einlässt und nicht versucht, ihnen unser Erwachsenen-Tempo aufzuzwingen. Man muss dafür halt immer ein bisschen früher aufstehen oder losgehen, um dem Zeitdruck zu entgehen.
Es gibt im Übrigen Selbsthilfegruppen für chronische Kniewipper. Beim Kniewippen gehe es um das Aufspringen wollen, während man gezwungenermaßen irgendwo sitzt, heißt es dort. Es ist eine simulierte Flucht, ein bedingter Abhau-Reflex, der in dem Moment chronisch wird, da das nicht gelingt und man festsitzt.
Seit Corona müsste die Erde langsam zu beben beginnen, da wir vermutlich alle gerade ziemlich viel mit den Knien wippen. Und sei es mental.