Herbst

Unser Dorf ist Halloween-Sperrgebiet. Dafür brauchen wir Corona nicht. Letztes Jahr sind drei Jungs mit schwarzen Umhängen durchs Dorf gezogen und haben halbherzig an ein paar Türen geklingelt. Die Antwort fiel immer gleich aus: „Ihr habt euch wohl im Tag geirrt! Kommt am Martinstag wieder, dann gibt’s was.“ Bei uns hat niemand geklingelt, ich hätte aber das gleiche gesagt. Da bin ich konservativ. In meiner Heimatstadt Hannover verdrängt Halloween den Martinstag zusehends. Hier auf dem Dorf halten wir noch wacker an der alten Tradition fest. Ich finde schade, wenn der rituelle Ursprung von Festen völlig von Kommerz und Krawall überlagert wird. Am Martinstag wird der Heischebrauch immerhin noch mit der Tugend des Teilens und Gesang verbunden. Der heilige Martin teilt seinen Mantel mit dem armen Mann im Schnee. Das hat mich als Kind immer sehr beeindruckt. An Halloween geht es um die Party, wer das gruseligste Kostüm hat und die meisten Süßigkeiten abgreift. Dabei hat auch dieses Fest bedeutsame Wurzeln, die im Laufe der Zeit unter Kürbiskitsch und Kaufhauskostümen begraben wurden.

Im alten Glauben öffneten sich mit dem 31. Oktober die Tore zur Anderswelt. Zu der Unterwelt der Verstorbenen und den Hügeln der Feen, des alten Volkes. Der Schleier zwischen den Welten hob sich während der dunklen Jahreszeit und sank erst Anfang Januar am Ende der Rauhnächte wieder herab. Nicht nur im keltischen Raum, auch bei uns stellte man zu dieser Zeit Lichter und Opfergaben in Form von süßen Speisen vor die Tür oder auf die Gräber, um die Seelen der Verstorbenen gnädig zu stimmen und ihnen den Weg zu leuchten. Denn die Toten waren nicht fort, sie waren unsichtbare Mitglieder des Haushalts, die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen konnten, aber auch Unheil stiften, wenn man sie erzürnte.

Wir feiern am Samstag unsere eigene Form von Halloween/Samhain/Allerseelen. Wir schmücken unseren Jahreszeitenaltar mit Fotos und Gegenständen der Verstorbenen, die noch in unseren Herzen sind. Die Kinder graben eine Wurzel aus und legen sie dazu, als Sinnbild für unsere Wurzeln, die Verbindung zu unseren Ahnen, den Großeltern und Urgroßeltern. Das Wort Enkel kommt aus dem althochdeutschen und bedeutet: kleiner Ahne. Früher glaubte man an die Seelenwanderung der Verstorbenen und ihre Reinkarnation in den Neugeborenen der Familie. Um Reinkarnation zu finden muss man also nicht bis nach Indien reisen, auch im Glauben unserer Vorfahren war sie ein zentrales Element.
Nach altem Kräuterbrauch darf die Wurzel auf keinen Fall mit Eisen ausgegraben werden. Eisen verjagt die Pflanzengeister. Eine Schaufel aus Kupfer sollte es sein oder, wie in unserem Fall, das abgeworfene Geweih eines Rehbocks. Wir graben die Wurzel des Alant aus, eine wunderschöne Sonnenpflanze, die früher zur Abwehr von Dämonen verwendet wurde. Sie riecht getrocknet zart nach Veilchen und erinnert geräuchert an den pudrig-weichen Geruch von Sandelholz. Dann erheben wir im Schein des blauen Oktober-Vollmonds unser Glas auf die Verstorbenen und erzählen am Lagerfeuer ihre Geschichten.

An Halloween verkleidet man sich besonders gruselig, um die wandernden Toten damit zu erschrecken und zu vertreiben. Aber ich möchte sie gar nicht vertreiben. Ich lade sie zu uns ein. Gerade in diesen Tagen kann ich das Durchhaltevermögen und die Weisheit meiner Großeltern gut gebrauchen.

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