• Winter

    Wintersonnenwende

    Wintersonnenwende. Die Erde hält den Atem an. Tiefe Dunkelheit umhüllt uns vom Nachmittag bis weit in den Morgen hinein. In unserem Haus haben die Rauhnächte begonnen. Nach christlichem Brauch dauern sie vom 25. Dezember bis zum Dreikönigstag. Wir beginnen bereits mit der Thomasnacht am 20.12., dem Vorabend der Wintersonnenwende. Die Siebenjährige wanderte gestern Abend im Kerzenschein mit dem Räucherpfännchen durch unser Haus. Auf einem Stück Kohle verbrannten wir Beifuß, Wacholder, Fichtenharz und Johanniskraut, Boten des vergangenen Sommers. Der Fünfjährige fächerte mit seiner Schwanenfeder den Rauch in jede Ecke. Natürlich nicht ohne anzumerken, dass er auch bald groß genug sei, das Räucherpfännchen zu halten. Räuchern hilft, das Haus vom Ballast des…

  • Frühling

    Palmbuschen für den Frühling

    Wir haben es geschafft! Von heute an sind die Tage wieder länger als die Nächte. Die Dunkelheit des Winters ist endgültig überwunden. Zwar wehte gestern zur Tag-und-Nacht-Gleiche ein kalter Wind, der so gar keine Frühlingsgefühle aufkommen lassen wollte. Friedolin und die Kinder verkrochen sich wie die Murmeltiere in ihre Höhlen und weigerten sich, das Haus zu verlassen. Aber der Brautgesang der Vögel klang nach neuem Leben und Aufbruch, also fuhr ich allein mit dem Fahrrad hinaus in die Felder, um Zweige für unseren Palmbuschen zu schneiden. Ich lief am verwilderten Ufer der Teiche entlang, durch undurchdringliche Knicks und lichtes Gehölz. In der ungewohnten Stille konnte ich erspüren, welche Bäume uns…

  • Winter

    Fastenzeit

    „Also, worauf wollen wir in den nächsten sieben Wochen verzichten?“, frage ich beim Mittagessen. Ich hatte den Kindern die Sache mit Jesus und der Wüste erklärt. Und dass es in der Fastenzeit nicht nur darum ginge, zu verzichten, was wir ja seit Monaten zur Genüge tun, sondern auch, falschen Versuchungen zu widerstehen, sich von alten Gewohnheiten zu befreien und Raum für neue Ideen zu schaffen.„Ich verzichte sieben Wochen…“, setzt Friedolin großspurig an, „…auf Schnee.“„Witzig“, sage ich.„Papa könnte sieben Wochen auf Fernsehen verzichten“, schlägt die Siebenjährige vor. Womit sie absolut Recht hat. Seit Corona verbringt Friedolin seinen Feierabend zu 90 % auf Netflix.„Abgemacht“, sage ich. „Sieben Wochen ohne Netflix.“„Wir haben gerade…

  • Herbst

    Unser Dorf ist Halloween-Sperrgebiet. Dafür brauchen wir Corona nicht. Letztes Jahr sind drei Jungs mit schwarzen Umhängen durchs Dorf gezogen und haben halbherzig an ein paar Türen geklingelt. Die Antwort fiel immer gleich aus: „Ihr habt euch wohl im Tag geirrt! Kommt am Martinstag wieder, dann gibt’s was.“ Bei uns hat niemand geklingelt, ich hätte aber das gleiche gesagt. Da bin ich konservativ. In meiner Heimatstadt Hannover verdrängt Halloween den Martinstag zusehends. Hier auf dem Dorf halten wir noch wacker an der alten Tradition fest. Ich finde schade, wenn der rituelle Ursprung von Festen völlig von Kommerz und Krawall überlagert wird. Am Martinstag wird der Heischebrauch immerhin noch mit der…

  • Frühling

    Der Steinzeitphallus

    Der Stein sieht exakt aus wie ein beschnittener Penis. Mit Hodensack und allem drum und dran. Als hätte ihn ein Homo erectus erschaffen. Der Vierjährige hält ihn mir strahlend entgegen: „Ist der gut?“, fragt er. Die Sechsjährige steht betrübt mit einem Schneckenhaus daneben. „Sein Penis ist viel cooler“, mosert sie. Diesen Satz sagen Mädchen mit Brüdern ja öfter. Der Vierjährige streckt ihr die Zunge raus: „Das ist mein Penis, ich hab ihn gefunden.“ Sie kontert mit: „Du Römer!“, ihr neues Lieblingsschimpfwort seit der Kreuzigungsgeschichte. Und wieder finde ich mich in einer dieser Szenen, bei denen ich mich frage, ob alle Kinder diesen Hang zum Surrealismus haben.Die beiden waren losgezogen, um…