Die Göttin und der Holunder
„Guten Tag, Frau Holla“, sagt der Vierjährige und vergräbt seine kleine Nase andächtig in der duftenden Holunderblüte. Dann lauscht er einen Moment auf die unhörbare Antwort. Die Sechsjährige streichelt sanft über die Blüten und schnuppert an ihren zartgelben Fingern. In alten Zeiten war es üblich, sich zur Blütezeit vor dem Hausholunder zu verneigen oder den Hut zu ziehen. Er galt als heiliger Baum, als Hausapotheke der Bauern, spendete Schutz und Nahrung. Die Urgöttin Holla, Hullefrau, Hel – oder wie wir sie heute kennen – Frau Holle hatte ihren Wohnsitz im Hollerbusch. Seine Wurzeln reichten tief in ihr unterirdisches, lichtdurchflutetes Reich. Schwangere Frauen umarmten den Busch, weil sie glaubten, die Göttin schicke durch ihn die Kinderseelen aus dem Jenseits in das Reich der Menschen. Daher stammt wohl der alte Abzählreim:
Ringel, Ringel Reihe,
sind der Kinder dreie,
sitzen unterm Hollerbusch,
machen alle husch, husch, husch.
Die Friesen vergruben ihr Toten unterm Husholler. Für sie war er der Baum der verstorbenen Ahnen, denen sie an seinen Wurzeln Milch, Brot oder Bier opferten. Kranke streiften Fieber und Gicht an ihm ab. Einen Holunder zu fällen brachte Unglück. Dann kam die christliche Kirche und machte das, was sie fast immer mit den heidnischen Natur-Bräuchen tat: sie verkehrte das Gute zum Bösen und aus dem Holunder wurde der Teufelsbaum. Die Menschen entsagten der Naturverehrung und fällten die heiligen Bäume. Wer weiß, wie weit der Klimawandel heute fortgeschritten wäre, würden wir das Göttliche immer noch in Wäldern, an Quellen und Flüssen anbeten und nicht in von Menschen erbauten Häusern.
Heute gilt Holunder vielen als Unkraut, weil die Vögel seine Samen munter im Garten verteilen. Wir lieben unsere Holunder. Kurz nach unserem Einzug haben wir den ersten gepflanzt. An die Stelle eines Kirschlorbeers. Mittlerweile haben sich seine Kinder in rauschenden Hecken über den Garten verteilt. Im Frühling betört uns sein Duft, im Sommer genießen wir Blüten-Sirup und Gelee, im Herbst kochen wir aus den Beeren Marmelade und Likör. Die Kinder haben schon so manches Fieber an ihm abgestreift. Wir glauben an die alten Sagen. Die Macht der Phantasie ist stärker als manche Medizin.
Letztes Jahr hatten wir unseren Hausholunder zur Blütezeit täglich auf dem Weg zum Kindergartenbus begrüßt. Der Vierjährige war dabei besonders hingebungsvoll und nahm sich Zeit, um an jeder Dolde zu schnuppern, die er noch auf Zehenspitzen erreichen konnte. Als die Holunderblüte schon längst vorbei war und die ersten Beeren am Strauch reiften, wuchs plötzlich ein einzelner Zweig in den Weg hinein. Genau auf Kopfhöhe des Vierjährigen bildete sich eine letzte wunderschöne Blüte. Unser Holunder wollte wohl noch ein wenig länger beschnuppert werden.
Unsere Kinder lieben Hollerküchle
Rezept für 12 Holunderblüten
200 g Mehl, Prise Salz, 2 Eigelb von glücklichen Hühnern, Hafermilch und Honig zu einem glatten Teig rühren. 2 Eiweiße steif schlagen und vorsichtig unterheben. Reichlich Öl in einem Topf erhitzen. Holunderblüten am Stiel anfassen und in den Teig tauchen. Sofort mit dem Stiel nach oben ins heiße Fett legen und etwa 2 Minuten schwimmend ausbacken. Herausnehmen, auf Küchenkrepp abtropfen lassen und heiß verspeisen. Zwischendrin immer mal die Reste aus dem Öl fischen. Wenn man wie ich zuviel davon isst, kann einem schnell schlecht werden. Es lebe der Frühling.