Barbaras Rute
„Mein Zweig blüht immer noch nicht!“, sagt der Fünfjährige und betrachtet ungehalten seinen Barbarazweig.
„Die sollen ja auch erst an Weihnachten blühen, du Dulli“, sagt die Siebenjährige. „Mama, wie lange noch bis Weihnachten?“
„24-20“, sage ich. Die Siebenjährige tut sich immer noch schwer mit Kopfrechnen, da muss ich jede Gelegenheit nutzen.
„Also, wie lange noch?“, fragt der Fünfjährige.
„Einen Tag weniger als gestern“, sagt die Siebenjährige und verlässt den Raum.
In diesem Jahr haben wir uns mit der grünen Kraft von Birne, Pfirsich, Apfel und schwarzer Johannisbeere eine Vorahnung von Frühling ins warme Haus geholt. Die Kinder haben sich Zweige von ihren Taufbäumen geschnitten, Friedolin haben wir auch einen Zweig mitgebracht. Er hat es nicht so mit alten Bräuchen, freut sich hinterher aber doch, wenn wir ihn mit bedenken. Also ich glaube, dass er sich freut. Friedolin zeigt Freude ja mehr so inwendig. Also, wenn er nichts zu kritisieren hat, ist das schonmal ziemlich gut.
An Weihnachten zählen die Kinder die Blüten an ihren Zweigen, wer die meisten Blüten hat, dem begleitet Glück durch das kommende Jahr. Früher dienten diese sogenannten Wintermaien dazu, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Frauen im heiratsfähigen Alter gaben den Zweigen die Namen potentieller Ehemänner. Wessen Zweig am meisten Blüten trieb, der würde die Braut zum Altar führen. Mancherorts wurden die Zweige auch für Ernteorakel oder zu Fruchtbarkeitsritualen genutzt. Dazu wurden junge Frauen mit den Zweigen spielerisch ausgepeitscht, um die aufsteigenden Triebkräfte der Natur auf sie zu übertragen. Das war im Übrigen auch die ursprüngliche Funktion der Rute Knecht Ruprechts, die in alten Zeiten glücksbringende Fruchtbarkeitsrute war und erst durch die christliche Umdeutung zur strafenden Rute wurde. So wie die Triebkraft der Wintermaien später von der Heiligenlegende der keuschen Barbara überschrieben wurde, die für ihren glühenden Glauben von ihrem Vater hingerichtet wurde.
Uns erinnern die Zweige auf unserer Fensterbank daran, dass der Winter gar nicht kahl und leblos ist. Das jetzt schon in jedem Baum die wunderbare Kraft des Frühlings nur darauf wartet, wieder aufzusteigen und zu erblühen.