Herbst

Altweibersommer

Die Mauersegler sind fort. Der Himmel über unserem Garten ist seltsam still und leer. Früh morgens auf dem Weg zum Kindergartenbus schmeckt die Luft schon nach Laub und Fallobst und Abschied. Der Fünfjährige bläst Atemwolken vor sich in die kalte Luft wie eine Miniatur-Dampflok und sammelt unreife Albino-Kastanien. Die Siebenjährige ist mit Tierhaaren übersät, unsere Kaninchen bekommen Winterfell. Ich frage mich, ob ich je wieder Winterfell sagen kann, ohne an Game of Thrones zu denken. Die Hühner haben die Mauser beendet und uns ihre filigran gemusterten Federn überlassen. Jetzt legen sie wieder Eier, bevor sie für die dunkle Jahreszeit endgültig pausieren. Ich trockne Kaninchenfutter und Teepflanzen. Wenn wir sie im Winter räuchern, wird der Geruch die Erinnerung an helle Tage unter freiem Himmel wecken und uns wärmen. Aber vorher muss ich noch die Zucchini und Tomatenernte verarbeiten. Die Zucchini wachsen in der hintersten Ecke des Ackers. Wenn ich viel zu tun habe, vergesse ich manchmal, dort vorbei zu schauen. Also haben wir immer mal wieder Giganten-Zucchini, die tagelang wie ein schlechtes Gewissen auf der Arbeitsplatte der Küche lagern. Einmal wuchs so eine auf unserem Balkon im fünften Stock in der Stadt. Eine Zucchini-Ranke hatte sich unbemerkt unter den Balkon geschlängelt. Irgendwann klingelten die Nachbarn von unten und überreichten uns die Monsterzucchini. Zum Glück hatte sie niemanden erschlagen.
Unser Garten legt sein Herbstkleid an: rostrote Hagebutten, braune Haselnüsse, Goldrute und Blutpflaumen, leuchtende Kürbisse und rotbackige Äpfel. Die Holunderbeeren sind auch fast reif, das große Einkochen kann beginnen. Marmelade für die Kinder, Chutney für die Erwachsenen. Meteorologisch befinden wir uns bereits im Herbst. Ich halte aber beharrlich am Begriff Altweibersommer fest und hoffe für uns und die Tomaten noch auf ein paar milde Tage. In diesem Jahr will ich den Sommer nicht gehen lassen. Normalerweise freue ich mich auf die stille und klare Jahreshälfte. Auf den gemütlichen Rückzug, auf Abende vorm Kachelofen mit Wollsocken und Abenteuergeschichten und verschmusten Kindern. Im Sommer sind wir immer in Bewegung, wir leben im Garten, im Wald, am See, unser Haus verwaist. Es ist schön, sich mit den kürzer werdenden Tagen in jeder Hinsicht in die Innenräume zurückzuziehen.
Aber die zweite Welle rollt bereits mit Kraft heran. Im Moment stehen Innenräume nicht mehr nur für Schutz und Rückzug sondern auch für ein erhöhtes Ansteckungsrisiko. Die Open-Airs, die wir im Sommer spielen durften, gaben uns ein trügerisches Gefühl von Leichtigkeit und Normalität. Es wird sich erst zeigen, ob sich die Zuschauer im Herbst wieder in die geschlossenen Räume der Theater trauen.

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