Mamaaa!!!

Achtsamkeit, my ass!

Um mich herum betreiben jetzt alle die neue Trendsportart Achtsamkeit. Eine Freundin schickte mir die Zeilen eines Zen-Priesters:
„Jetzt nehme ich mir Zeit, Kartoffeln zu schälen, Salat zu waschen und Rüben zu kochen, den Boden zu schrubben, Waschbecken sauber zu machen und Müll rauszubringen. Versunken im Alltag habe ich Zeit, mich zu lösen, mich zu entspannen, den ganzen Körper.“
Ganz ehrlich, der Typ hat doch bestimmt keine Kinder. Und wenn ja, kümmert sich seine Frau um sie, während er achtsam den Boden wischt. Früher, ja früher konnte ich mich beim Putzen auch entspannen und hinterher im Einklang mit mir und meiner Wohnung die Ordnung und Klarheit genießen. Heutzutage putze ich mit zwei Kindern im Schlepptau. Meist streiten sie sich, wer den tolleren Lappen hat oder das Spritzdings haben darf. Kartoffeln schäle ich parallel zum Homeschooling. Wenn die Kinder nicht dabei sind, erledige ich alles im Zeitraffer, weil schon die nächste Aufgabe Schlange steht, ohne Sicherheitsabstand.

Achtsamkeit, my ass! Ich bin nicht achtsam. Ich bin Mutter. Ich habe keine Zeit, minutenlang achtsam auf einer Rosine rumzukauen. Wenn überhaupt bin ich achtsam, dass meine Kinder nicht vor einen Laster laufen oder sich beim Trampolinspringen das Genick brechen. Ich schmecke nicht mit allen Sinnen meinen Kaffee, weil meine Sinne damit beschäftigt sind, die Kinder zu beobachten, wie sie das erste Erdbeereis des Sommers genießen. Dann bin ich auch achtsam und ganz in diesem Moment, nur halt nicht in meinem Moment. Ich lebe seit sieben Jahren mit Second-Hand-Erlebnissen. Ich erlebe die meiste Zeit durch meine Kinder, begleite sie bei ihren kostbaren Ersterfahrungen, lache, weil sie lachen, fühle mich lebendig, weil sie leben. Natürlich verliere ich mich manchmal dabei. Aber ich hatte Zeit genug, entspannt atmend unter Bäumen zu sitzen. Jetzt putze ich verspannt das Klo. Wenn die Kinder aus dem gröbsten raus sind, sehen wir weiter.

Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, werde ich aber bestimmt keine Anhängerin der Achtsamkeitsindustrie. Von all den Büchern, Kursen und Sinnsprüchen. Ich bin Trends gegenüber zutiefst skeptisch. Das habe ich im Geschichtsunterricht so gelernt. Wenn ich mir ein Schild ins Haus hängen muss, um mich daran zu erinnern, dass ich Lachen, Lieben und Leben soll, läuft doch ohnehin etwas schief. Ich will mir nicht von Frauenzeitschriften im Wartezimmer erklären lassen, dass mein Waldspaziergang plötzlich das neue Trend-Achtsamkeitsritual Waldbaden ist. Achtsamkeitsbücher für Kinder sind das größte Absurdum. Ebenso wie Stoppersocken für Neugeborene. Kinder sind von Natur aus achtsam. Sie leben im Moment, nehmen sich Zeit, minutenlang eine Schnecke zu beobachten oder ihr Eis in Zeitlupe zu genießen, bis es auf den warmen Sommerasphalt tropft. Wenn Kinder nicht achtsam sind, liegt es in der Regel an ihren überspannten Eltern. Ihr merkt schon, ich bin heute überhaupt nicht achtsam. Die Tage haben seit Corona nicht genug Stunden. Es ist 21.30 Uhr und ich werde mir gleich, statt wie geplant Yoga zu machen, achtsam ein Bier hinter die Binde kippen. Achtsamkeit, my ass!

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