HI-RN 1000
In meinem Kopf herrscht ständig Ausnahmezustand. Gedanken, Ideen, To-Do-Listen, Gesprächsfetzen und Retrospektiven jagen sich pausenlos in irrem Tempo durch sämtliche Synapsen, verfolgt von einem überambitionierten Alleinunterhalter, der mit Songtexten, Werbeslogans, und Gedichten jongliert. Das mag vielleicht unterhaltsam sein, wenn man zufällig Oscar Wilde oder Heinz Erhard ist und in der Badewanne über die eigenen Bonmots lachen kann. In meinem Fall finde ich es eher lästig.
Ich vergesse nie etwas. Ich erinnere mich zur Freude unserer Kinder an jedes Lied und jedes Gedicht meines Lebens. Ich erinnere mich daran, dass eierlegende Zahnkarpfen ihren Nachwuchs in Elefantenfußstapfenpfützen groß ziehen und Fischotter einen Lieblingskieselstein haben, den sie in einer Hautfalte unter ihrem Arm aufbewahren. Ich erinnere mich minutiös an Gespräche, die ich mit Friedolin vor zehn Jahren geführt habe. Er weiß schon nicht mehr, was wir heute Morgen besprochen haben. Dafür schläft er abends auch nach zwei Minuten ein. Während ich noch eine Stunde wach liege und vor mich hin denke. Abendliches Einschlafen fällt meiner Meinung nach in die Kategorie Lärmbelästigung. Dann ist mein Denken noch lauter als sonst. Angeblich sind ja intelligente Menschen oft vergesslich, weil das Gehirn zwischen wichtigen und unwichtigen Aufgaben selektiert. Also entweder bin ich strunzdumm oder so intelligent, dass mein Gehirn das mit dem Vergessen nicht nötig hat. Ist ja auch so noch genug Platz. Eine zeitlang hatte ich das Nummernschild HI-RN 1000. Hatte ich damals bei der Zulassungsstelle eigentlich nur aus Witz angefragt, war aber noch frei und stand mir als Jungdozentin ganz gut.
Ich habe Yoga und Meditation probiert, autogenes Training, progressive Muskelentspannung, abendliche Gedankenprotokolle, einsame Strandspaziergänge, Schwimmen und Tanzen, Melissentee und Alkohol. Küssen hilft. Aber nur im Anfangsstadium. Mittlerweile denke ich auch beim Küssen nach, unter anderem darüber, dass ich beim Küssen nicht denken sollte.
Vielleicht war ich bei allen Maßnahmen nicht konsequent genug. Ich habe zum Beispiel den Zug-Trick probiert, bei dem man sich vorstellt, dass die Gedanken wie Züge in den Kopf einfahren, man betrachtet sie kurz und lässt sie gelassen weiterfahren. Dabei musste ich feststellen, dass mein Kopf einem Sackbahnhof bei Schneesturm gleicht.
Ich bin so froh, dass ich nicht Friedolin bin. Ich möchte nicht mit mir zusammen sein. Ganz ehrlich nicht. Ich fänd mich total anstrengend. Abgesehen von dem ganzen Denken bin ich unfassbar willensstark, überemotional, moralisch und so empathiefähig, dass es an Hausfriedensbruch grenzt. Ich behaupte zwar gern, dass ich nicht anstrengend bin, sondern lediglich komplex. Aber das ist gelogen. Ich bin wahnsinnig anstrengend. Zum Glück beherrscht Friedolin die hohe Kunst der mentalen und emotionalen kugelsicheren Weste. Das alles kann ich hier so offen zugeben, weil er die Kolumne ja nicht liest.
Ich schreibe diesen Text um 0:35 Uhr, in der Hoffnung, danach endlich einschlafen zu können. Vermutlich muss ich aber doch wieder schummeln und ein Hörbuch mit Schlummerfunktion anstellen. Es muss aber ein sehr komplexes Hörbuch sein. Auf englisch. Damit sich mein HI-RN 1000 auch wirklich drauf konzentrieren muss.