Corona-Chronik,  Gesellschaft

Die erdrückende Freiheit

Soll ich oder soll ich nicht? Soll ich die Siebenjährige bis Mitte Februar von der Schule abmelden oder soll ich sie wechseltägig hinschicken? Die Niedersächsische Landesregierung hat uns Grundschul-Eltern diese Entscheidung überlassen. Unserem Kultusminister Grant H. Tonne zufolge wüssten Eltern am besten, was ihren Kindern guttue.

Aber ich muss ganz ehrlich sagen: bei allen Freiheitseinschränkungen, mit denen wir seit März zu kämpfen haben, auf diese Freiheit hätte ich gern verzichtet. Diese Entscheidungsfindung macht mich einfach nur wahnsinnig müde. Sind wir Eltern alle plötzlich über Nacht zu Hobby-Virologen geworden und können ernsthaft einschätzen, ob der Schulbesuch unserer Kinder fahrlässig oder vertretbar ist?
Ob unsere beruflichen oder privaten Gründe für den Schulbesuch schwerer wiegen als das Ansteckungsrisiko? Wenn die neue Mutation brandgefährlich ist, müssen die Schulen zu bleiben, wie es Angela Merkel gefordert hat. Punkt. Dieses Abwälzen von Verantwortung auf uns dauergestresste Eltern finde ich unzumutbar.

Für unser Familiensystem wäre es natürlich besser, wenn unsere Tochter zumindest zweimal die Woche in die Schule gehen könnte.
Besser für den psychischen Zustand unseres Kindes. Ihr fehlen die Freunde, ihre Lehrerin, die Struktur. Ihre Motivation zu lernen, lässt zu Hause spürbar nach. Das Lernen wird zu etwas Abstraktem ohne die Ansprache durch die Lehrerin und die Gruppenerfahrung mit Gleichaltrigen.

Und es wäre auch besser für den psychischen Zustand von uns Eltern, würde sie gehen. Ich sitze bis 23 Uhr häufig noch am Computer, weil ich tagsüber nicht alle Aufgaben unter einen Hut bringen und mit zwei Kindern zu Hause keinen klaren Gedanken fassen kann. Für eine Weile halte ich das durch, aber seit März hat ja keine wirkliche Erholung von der Mehrfachbelastung statt gefunden. Gerade arbeite ich weniger, um nicht allzu schnell auszubrennen und die Leerstellen im Leben der Kinder füllen zu können: die fehlenden Großeltern, den Sport, die Spielverabredungen, die Schule und den Kindergarten. Aber weniger Arbeit bedeutet auch, weniger Geld.

Und es wäre besser für ihren kleinen Bruder, der gestern morgen weinend aus der Küche lief, als ich seiner Schwester die Grundlagen der Multiplikation beibringen musste und ihn zum wiederholten Male anknurrte, dass ich jetzt gerade keine Zeit hätte, sein Sticker-Buch zu bewundern. Er muss im Moment ständig zurück stecken.

Was jedoch schwerer wiegt als jede Überlegung persönlicher Natur: natürlich will ich nicht verantwortlich sein, falls unsere Tochter sich in der Schule ansteckt und die Krankheit wohlmöglich an jemand anderen weiter gibt, der mit einem schweren Verlauf im schlimmsten Fall verstirbt. Also werden wir sie zu Hause behalten. Nicht, weil es für unser Kind das beste ist. Sondern weil es von unserer gesellschaftlichen Verantwortung her die einzig logische Konsequenz ist.

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