Nur ein Geschenk pro Kind
„SPECHTI!“ Der Fünfjährige steht weinend im Garten. Er hat seinen Playmobil-Specht verloren. „Spechti!“ Wieder und wieder ruft er und lauscht auf eine Antwort, die nicht kommt. Natürlich hatte ich vorher gesagt: „Nimm ihn nicht mit raus, der geht verloren.“ Und wie immer hatte er geantwortet: „Ich pass schon auf.“ Jetzt muss die ganze Familie unseren wilden Garten nach einem daumennagelgroßen Plastikspecht durchsuchen, an dem ein fünfjähriges Herz hängt. Ich glaube, kleinteiliges Spielzeug wurde einzig und allein entwickelt, um Eltern mit ständigem Suchen zu beschäftigen, damit sie keinen klaren Gedanken fassen können, zum Beispiel, ob dieses ganze Kapitalismusding wirklich sein muss und Kinder zu ihrem fünften Geburtstag unbedingt 30 Geschenke brauchen, Kleinteile nicht mitgezählt.
Der Fünfjährige saß an seinem Geburtstag in einem Meer aus Geschenkpapier, seufzte tief und sagte leise: „Ganz schön viel.“ Dann schnappte er sich aus dem großen Haufen den kleinen Specht und seinen Kuscheltierhund und verkroch sich zum Spielen unter den Tisch. Irgendwie vergessen immer alle in unserer Familie, dass wir eine ziemlich weitverzweigte Verwandtschaft haben und daher die Bitte Nur-ein-Geschenk-pro-Kind wirklich im Sinne des Kindes ist. Stattdessen schenken alle mindestens drei Geschenke, damit sich das Kind auch wirklich geliebt fühlt. In den letzten Jahren hatte ich immer heimlich die Geschenke vorsortiert und alles, was nicht altersgemäß oder zuviel war in eine Geschenkelagerbox auf den Dachboden gepackt. Für das nächste Fest oder die nächste Geburtstagseinladung oder mittellose Kinder. Meistens hatte ich Geschenke, die ich besorgt hatte, oder von fernen Paten aus dem Verkehr gezogen, um die Verwandtschaft nicht zu verletzen.
In diesem Jahr hatten wir auf Grund der allgemeinen Corona-Überforderung den Dingen einfach mal ihren Lauf gelassen. Schließlich hatten wir das Thema oft genug angesprochen und gehofft, dass auch jemand zuhört. Nach dem ersten Auspackrausch war der Fünfjährige vor allem eines: überfordert. Wie sollen denn Kinder ein vernünftiges Verhältnis zu Geschenken bekommen, wenn bei jedem Anlass eine ganze Spielwarenabteilung bei uns aufläuft? Ja, ich weiß, First World Problems, aber es macht mich trotzdem ratlos und verzweifelt. Bei der ganzen Geschenkesortiererei geht so viel Lebenszeit drauf. Psychologen warnen davor, dass diese Geschenkflut bei Kindern langfristig negative Auswirkungen hat. Gerade bei kleinen Kindern sorgt das für eine kaum zu bewältigende Reizüberflutung, die Folge ist ein Reizverlust, die Geschenke werden schnell uninteressant und – ähnlich wie bei Suchtproblemen – lässt sich Freude mit der Zeit nur noch wecken, wenn in immer kürzeren Abständen etwas Neues hinzukommt. Oder die Kinder beginnen, ihren Selbstwert über Materielles zu definieren. Und sitzen am Ende maulend in einem Berg aus Geschenken wie Dudley in Harry Potter: „Nur 36 Geschenke, letztes Jahr waren es 37!“
„Ich hab ihn“, ruft der Fünfjährige. Er klappt den Griff seines Rollers auf und zieht den Specht hervor. „Er war müde, deshalb musste er in der Spechthöhle schlafen.“ Er strahlt über das ganze Gesicht und trägt den Specht in der hohlen Hand ins Kinderzimmer, um ihn in seinen Baum zu setzen. Ich atme auf. Solange er sich noch so sehr über einen kleinen Plastikvogel freuen und den riesigen Geschenkberg einfach ausblenden kann, haben wir wohl doch nicht alles falsch gemacht.