• Kinder

    Das vergessene Kind

    Ich habe dem Fünfjährigen das Herz gebrochen. Zwar nur für ein paar Minuten, aber das war schlimm genug für uns beide. Gestern Mittag kam der Kindergartenbus zu früh. Er kommt mittags nie zu früh, eher zu spät, daher war ich noch nicht da. Also saß der Fünfjährige mit hängenden Schultern und zusammengepressten Lippen auf der kleinen Mauer, während der Fahrer mit laufendem Motor im Bus mit ihm wartete. Kinder haben noch kein Zeitgefühl, fünf hungrige Minuten allein in der Kälte können sich anfühlen wie ein ganzer Tag. Als er mich um die Ecke kommen sah, rannte er sofort auf mich zu und warf sich schluchzend in meine Arme.„Hast du gedacht,…

  • Kinder,  unser Garten

    Das Wunderhuhn

    Wir verlangen ab jetzt Eintritt für unseren Garten. Weil die Kinder wegen Corona gerade sonst keine Hobbys haben, proben sie für eine Greifvogelschau. Der ortsansässige Turmfalke ist zwar unwillig, aber wozu haben wir denn Hühner. Solange ausreichend Spaghetti im Spiel sind, halten sowohl Kinder als auch Hühner endlose Proben durch. Die Siebenjährige ruft in bester Marktschreiermanier:„Seht her das Wunderhuhn!“Dann klettert das Hühnchen auf ihr ausgestrecktes Handgelenk und lauscht dort stolz thronend einem Vortrag über Bisstöter und Grifftöter.„Der Falke erlegt seine Beute durch einen Nackenbiss.“Am Ende erbeutet es unter tosendem Applaus eine Nudel im Sturzflug.Die nächste Attraktion ist unsere Kampfhenne Helene, die sich spektakuläre Zweikämpfe mit riesigen Mutanten-Ratten liefert, die seit…

  • Kinder

    Kunstkritik am Kind

    Der Fünfjährige macht jetzt in Bildende Kunst. Seine derzeitige Schaffensperiode heißt: Vor der zweiten Welle. Es ist viel Tesafilm involviert. Connoisseure performativer Gegenwartskunst konnten kürzlich Zeuge werden, wie in einem scheinbar zerstörerischen Akt eine langstielige Sukkulente in ihre Einzelteile zerlegt und mit einem Küchenmesser ihrer schützenden Außenhaut beraubt wurde. Dabei ging der Künstler ironisch auf das geltende Abstandsgebot ein, indem er als Teil der Performance Pflanzenteile in einem Umkreis von exakt anderthalb Metern von sich schleuderte. Anschließend applizierte er das organische Material mit Tesafilm auf einem DIN-A4 Blatt. In der Transformation von Natur zu Kultur wurde das Spannungsfeld zwischen Chaos und Norm erfahrbar. Der Tesafilm, als Inbegriff der Wegwerfgesellschaft, beraubt…

  • Kinder

    Essen mit Kindern

    Unsere Kinder haben seltsame Essensvorlieben. Eines der ersten Wörter unserer Tochter war: „Cornichon“. Das konnte sie noch vor „Papa“ sagen. Man muss ja Prioritäten setzen. Wohingegen es Orange, Kiwi und Mandarine bis heute nicht in ihr Vokabular geschafft haben. Zitrusfrüchte heißen bei ihr einfach: Mag ich nicht. Sie mag keinen Kakao, dafür aber Oliven und strengen Käse. Immerhin konnten wir ihr beibringen, dass auf die Frage:„Möchtest du einen Kakao, meine Kleine?“„Nein, aber zu einem Stück Roquefort würde ich nicht nein sagen“, nicht die adäquate Antwort einer Sechsjährigen ist. Unser Sohn bastelt sich sein Essen gern selbst. Er zermatscht gekochte Kartoffeln und Erbsen in seinen Fäusten zu Bällchen, wendet sie im…

  • Kinder,  Urlaub

    Die Entdeckung des Schneckentempos

    Die Kinder trinken die erste Orangina ihres Lebens. Der Fünfjährige bricht in so lautstarke Rufe des Entzückens aus, dass die Gäste an den Nachbartischen irritiert zu uns schauen. Vielleicht denken sie, dass wir eine jugendfreie Variante der Restaurantszene aus Harry & Sally drehen. Die Siebenjährige schließt genießerisch die Augen. Friedolin hat seinen Kaffee bereits vor 10 Minuten ausgetrunken und trommelt nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Die Kinder spielen „Wer-am-langsamsten-Trinken-kann“. Sie stellen nach jedem winzigen Schluck ihre Flaschen vor sich auf den Tisch, richten sie penibel zueinander aus und vergleichen die Pegelstände. Friedolin wippt mit dem Knie. Dann diskutieren die Kinder ihre Pegelstände und heben die Flasche in Zeitlupe…

  • Kinder,  Nachhaltigkeit

    Im Kleiderrausch

    Ich hocke in einem Meer aus gebrauchter Kinderkleidung und verzweifele. Die Kinder sind auch nicht gerade hilfreich. „Das ist mein Lieblings-Shirt“, ruft die 6-Jährige und durchwühlt den Stapel „Aussortiert“. „Ja, aber es ist zu klein“, sage ich nicht zum ersten Mal an diesem Vormittag. Sie überhört mich demonstrativ und trägt das Shirt zurück zu ihrem Kleiderschrank. Währenddessen hortet der 4-Jährige alles von seiner großen Schwester mit Glitzer oder Blumen. Zum Glück ist er so eine coole Socke, das er für seine modischen Vorlieben im Kindergarten nicht gehänselt wird. Die Jungs im Dorf tragen eher Bürstenschnitt und dunkelblaue Sportklamotten. Der Übergang von Winter- zu Sommerkleiderschrank führt mich jedes Jahr an den…