Im Kleiderrausch
Ich hocke in einem Meer aus gebrauchter Kinderkleidung und verzweifele. Die Kinder sind auch nicht gerade hilfreich. „Das ist mein Lieblings-Shirt“, ruft die 6-Jährige und durchwühlt den Stapel „Aussortiert“.
„Ja, aber es ist zu klein“, sage ich nicht zum ersten Mal an diesem Vormittag. Sie überhört mich demonstrativ und trägt das Shirt zurück zu ihrem Kleiderschrank. Währenddessen hortet der 4-Jährige alles von seiner großen Schwester mit Glitzer oder Blumen. Zum Glück ist er so eine coole Socke, das er für seine modischen Vorlieben im Kindergarten nicht gehänselt wird. Die Jungs im Dorf tragen eher Bürstenschnitt und dunkelblaue Sportklamotten. Der Übergang von Winter- zu Sommerkleiderschrank führt mich jedes Jahr an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Seit ich gelesen habe, dass in Deutschland alle zwei Minuten fünf Tonnen Kleidung weggeworfen werden, traue ich mich nichts mehr in den Altkleidercontainer zu werfen. Die Altkleider werden nach Afrika oder Osteuropa exportiert und zerstören dort die lokale Textilindustrie. Oder sie werden zu Dämmmaterial verarbeitet oder verbrannt. Durch zu billig gewordene Fast-Fashion ist Textilmüll ein ernsthaftes Umweltproblem geworden. Um mich herum stapeln sich verschiedene Haufen, beziehungsweise, das, was die Kinder davon übrig gelassen haben: Klamotten, die nächsten Herbst noch passen könnten, geliehene Klamotten, die an die jeweiligen Spender zurückgehen, noch tragbare Sachen für Kinder aus Familie und Freundeskreis, kaputte Kleidung für die Stoffkiste. Ich schiebe diverse Projekte vor mir hier, die ich in ferner Zukunft aus Stoffresten verwirklichen möchte, wenn ich mal wieder – Achtung, Pointe – Zeit übrig haben sollte. Waschbare Kosmetikpads nähen, Flickenteppiche flechten, aus Friedolins alten Hemden Kinderkleider nähen. Bis dahin ist meine Nähecke der Altkleidercontainer. Wir haben viele kaputte Sachen, da unsere Kinder ausschließlich gebrauchte Kleidung auftragen. Das Geld, das wir dadurch sparen, reinvestieren wir in Kleidung aus Fairem Handel, falls wir doch mal was Neues brauchen. Auch meine Kleidung hat ständig Löcher, ich krieche einfach zu oft durchs Gebüsch auf der Suche nach versteckten Eiernestern. Aber ich trage sie weiterhin, schließlich bin ich Künstlerin, da gehört fadenscheinige Kleidung zum Look. Vor allem seit Corona trage ich demonstrativ meine kaputten Klamotten als Protest gegen die nicht eingehaltenen Versprechen der Landesregierungen, Künstler mit Soforthilfen zu unterstützen.