Kinder

Das vergessene Kind

Ich habe dem Fünfjährigen das Herz gebrochen. Zwar nur für ein paar Minuten, aber das war schlimm genug für uns beide. Gestern Mittag kam der Kindergartenbus zu früh. Er kommt mittags nie zu früh, eher zu spät, daher war ich noch nicht da. Also saß der Fünfjährige mit hängenden Schultern und zusammengepressten Lippen auf der kleinen Mauer, während der Fahrer mit laufendem Motor im Bus mit ihm wartete. Kinder haben noch kein Zeitgefühl, fünf hungrige Minuten allein in der Kälte können sich anfühlen wie ein ganzer Tag. Als er mich um die Ecke kommen sah, rannte er sofort auf mich zu und warf sich schluchzend in meine Arme.
„Hast du gedacht, ich hab dich vergessen?“, fragte ich.
Den kleinen Kopf immer noch in meinen Bauch gepresst nickte er.
„Aber ich hab dich doch noch nie vergessen, der Bus war zu früh“, sagte ich, bestürzt über seine heftige Reaktion. Seine Hände waren eiskalt und er zitterte. Ich öffnete meinen Reißverschluss, nahm ihn auf den Arm und legte meine warme Jacke wie ein Zelt um uns beide.
„Ich bin immer da, immer, und wenn ich nicht da bin, ist Papa da, und wenn Papa nicht da ist, ist Omimi da“, wiederholte ich wie ein Mantra, bis er sich beruhigt hatte.
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist, wie ich weinend auf der Rückbank unseres Autos sitze und denke: Mein Papa ist tot! Anders konnte ich mir nicht erklären, warum er einfach nicht wieder kam. Er hatte mich auf dem Weg zur Arbeit im Kindergarten absetzen sollen, musste aber vorher schnell noch etwas aus seiner Praxis holen. Also hatte er zu mir gesagt: „Du bleibst sitzen, bis ich wieder komme.“ Dann war er über die viel befahrene Hauptstraße geeilt und im Haus gegenüber verschwunden. Das Auto hatte er zur Sicherheit abgeschlossen. In der Praxis angekommen, hatte jedoch sein Echsenhirn die Vorherrschaft übernommen. Automatisch zog er seinen Arztkittel an und begann mit der Arbeit. Zum Glück kam irgendwann eine Patientin in die Praxis uns sagte: „Herr Doktor, in ihrem Auto sitzt ein Kind und weint.“
Seitdem bin ich noch oft vergessen worden und jedes Mal fühlte ich mich wieder wie das kleine Mädchen auf der Rückbank. So etwas brennt sich ein, das vergisst der Körper und die Seele nie wieder. Daher hatte ich mir geschworen, meine Kinder nie zu vergessen und immer pünktlich zu sein. Aber das Leben lacht sich über gute Vorsätze ja gern mal eins ins Fäustchen.
Ich mache Pupsgeräusche am Hals des Fünfjährigen, um ihn und mich aufzuheitern. Als er sich so weit beruhigt hat, dass er auf sein Fahrrad steigen kann, fahren wir auf einem Umweg beim Fohlen vorbei. Fohlen sind immer gut zur Aufheiterung. Zuhause angekommen lächelt er schon wieder. „Aber ICH will das Papa erzählen“, sagt er und reckt stolz das Kinn hoch.
Zum Glück habe ich diese riesige Winterjacke, von der meine Mutter immer sagt, ich würde darin aussehen wie ein Strolch. Die fünf gemeinsamen Minuten in dieser Jacke haben ihm hoffentlich eine Therapiesitzung als Erwachsener erspart.

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