Die Vorleserin
Ich bin heiser. Die Kinder haben sich gestern beim Vorlesen so vor Lachen gekringelt, da ist es mit mir durchgegangen. „Der kleine Junge sagte in den Hörer: Hallo ist da die Eisenwarenhandlung? Ich suche etwas, das eine Sprengladung Schnee auf ein kleines weibliches Ziel befördern kann. Können sie mir etwas empfehlen? Hallo? HALLO?“
Jetzt habe ich überall blaue Flecke. Kuscheliges Vorlesen mit vor Heiterkeit explodierenden Kindern geht selten ohne Blessuren der Mutter vonstatten. Der Fünfjährige sprang vor Freude auf und rammte mir dabei seinen Kopf unters Kinn, die Siebenjährige unterstrich ihre Lachanfälle mit spitzen Ellbogenstößen in meinen Busen. Vielleicht ist das der Grund, warum viele Eltern nicht gern vorlesen.
Laut der kürzlich erschienenen Studie der „Stiftung Lesen“ lesen 50 % der Eltern ihren Kindern nur ungern und 30 % gar nicht vor. Keine Zeit, zu müde, keine Lust. Vorlesen sei aber deshalb so wichtig, weil es ja nicht nur bedeute, einen Text zu erfassen sondern auch mit dem Kind ins Gespräch zu kommen und Nähe zu teilen. Dabei müssten die Kinder nicht still sitzen, sondern könnten während dessen auch rumtoben oder basteln. Durch Zeigen oder Benennen lerne das Kind, dass man sich über etwas gemeinsam Verständigen kann, was die beste Vorbereitung für spätere Lernprozesse in der Schule sei. Eines der Hauptargumente der Eltern gegen das Vorlesen war, dass man dann ja schauspielern müsse und sich das vor den eigenen Kindern seltsam anfühle.
Ganz ehrlich, ich spiele meinen Kindern ständig etwas vor. Wenn ich ich sie mit meiner wahren Gefühlslage konfrontieren würde, wären sie vermutlich bereits traumatisiert. Wenn ich sie zum Beispiel um 06:30 Uhr wecke, singe ich ein leises Guten-Morgen-Lied und kraule sie noch kurz. Alles gespielt. Der stark zensierte Subtext lautet: SCHEIßE! BIN! ICH! MÜDE! Warum musste ich bloß Kinder kriegen? Also mein Job zwingt mich nicht, so früh aufzustehen, oh, Gott, das geht jetzt noch 10 Jahre so, ich hasse Schultage, was kostet eigentlich ein Internat?“ Wenn ich das rausließe, würden die Kinder vermutlich nicht so gern aufstehen. Also spiele ich die liebevolle, ausgeschlafene Mutter und lasse den zensierten Subtext erst raus, wenn sie im Bus sitzen. Meistens kriegt es dann Friedolin ab, wenn er verschlafen in die Küche geschlurft kommt. Ein Teil von mir möchte die Kinder auch liebend gern anschreien, wenn sie sich vor kopfloser Wildheit mal wieder verletzt haben. „WAREN WIR DIESES JAHR NICHT OFT GENUG IM KRANKENHAUS???? Welchen Teil von: ihr sollt nicht im Regen auf den Steinplatten Fangen spielen, habt ihr nicht verstanden???“ Käme aber auch nicht so gut an. Also streichele ich ihnen sanft übers Haar und sage: „Ich hole dann mal ein Cool-Pack.“ Verglichen damit ist das bisschen Stimme-Verstellen beim Vorlesen doch ein Klacks.
Ein Kommentar
Conny
Liebe Wiebke, bin ganz deiner Meinung, dass Vorlesen total wichtig ist und eine wunderbare Gelegenheit, Nähe, Herzensbildung, Vergnügen und Konzentrationsfähigkeit in einem weiterzugeben und zu teilen. Erinnere mich aber, dass ich als junge Mutter manchmal auch sehr mit dem Schlaf gekämpft habe damals. Dass unser erstes Enkelkind nun mit 1,5 Jahren schon ständig gezielt Bücher anschleppt zum gemeinsamen Gucken macht mich glücklich.
Dein Ganzkörper-Einsatz trägt Früchte, jetzt und später!
Liebe Grüße Conny