Corona-Chronik

Kinder im Lockdown

„Warum werde ich eigentlich nie zum Geburtstag eingeladen?“, fragt der Fünfjährige beim Abendessen.
„Du bist doch schon auf ganz vielen Geburtstagen gewesen“, sage ich, doch er schiebt nur missmutig das Brot auf seinem Teller hin und her. Dann fällt mir ein: seine letzte Geburtstagsfeier liegt dank Corona über ein Jahr zurück.
Als ich ihn an Weihnachten fragte, ob er traurig darüber sei, dass wir die Großeltern nun doch nicht sehen können, sagte er leise: „Ach, die sehen wir doch eh nicht mehr.“
Vor ein paar Tagen trafen wir eine Familie zufällig im Wald, unsere Kinder waren früher gut miteinander befreundet gewesen, aber sie sind seit Corona sehr zurück gezogen. Die Kinder der Familie begrüßten uns nicht und stellten sich abseits. Als der Fünfjährige auf seinen Freund zu ging, wendete dieser ihm den Rücken zu und sagte kein Wort.
„Mag er mich nicht mehr?“, fragte mich der Fünfjährige später.
„Doch“, sagte ich, „ich glaube, er war mit der Situation einfach überfordert. Die Geschwister haben schon länger keine anderen Kinder mehr zum Spielen gehabt.“
Der Fünfjährige konnte schon immer gut allein spielen. Das muss er auch, wenn wir Arbeiten oder mit der Siebenjährigen Schule machen. Er flüstert dann mit seinen Schleich-Tieren, seinen Playmobil-Männchen und Autos. Aber er lacht nicht dabei. So richtig aus vollem Herzen lachen, albern, überdreht, fröhlich, selbstvergessen können Kinder vor allem, wenn sie mit anderen Kindern spielen.
Er kommt in diesem Jahr zur Schule. Der Sprung wird für ihn deutlich größer sein als für seine Schwester. Nach all den Wochen der Isolation die sozialen Anforderungen der Schule meistern zu müssen, wird ein ziemlicher Schock für ihn sein.
Dabei geht es ihm noch deutlich besser, als vielen anderen Kindern während der Corona-Krise. Er hat eine Schwester und lebt in einem Haus mit Garten und Hühnern und Kaninchen. Er hat eine Großmutter, die sich – wenn auch seltener als früher – mit ihren Enkeln trifft, weil sie die Einsamkeit stärker nieder drückt als die Angst vor Ansteckung. Und er hat zwei Eltern, die sich Zeit für ihn nehmen können, ihn zum Lachen bringen und das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Aber ihm fehlen gleichaltrige Jungen. Die hatte er selbst im Kindergarten nicht, weil in seiner Gruppe außer ihm alles Mädchen sind und er mit den Vorschul-Jungen der anderen Gruppe seit Corona keinen Kontakt mehr haben darf.
Ich habe den Eindruck, dass er langsam verkauzt wie ein alter allein lebender Mann, dass er sich auch immer öfter verhält, wie der Junge im Wald. Und ich kann nur hochrechnen, wie es Einzelkindern in Stadtwohnungen mit dauergestressten Eltern gehen muss. Um ein Kind groß zu ziehen, braucht es ein Dorf.
Es macht mich wütend, wenn ich lese, dass sich immer noch viele Firmen weigern, ihre Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken. Dass sich in Bussen und Bahnen immer noch Pendler dicht an dicht drängen. Die Infektionszahlen sinken nicht und die Krise dauert und dauert und dauert. Für uns Erwachsene sind 10 Monate Pandemie immer noch wenig im Vergleich zu dem reichen Erfahrungsschatz, auf den wir zurückblicken können. Für den Fünfjährigen ist es die Hälfte seines sozial aktiven, bewusst erinnerten Lebens. Wenn ich ihn Tag um Tag um Tag allein in seinem Zimmer spielen sehe, bricht es mir das Herz. Dann stelle ich mir vor, dass wir in einer einsamen Waldhütte in Kanada leben und deshalb so auf uns gestellt sind. Das hilft für den Moment.

Ein Kommentar

  • Claudi

    Liebe Wiebke,
    das neue zu Hause deines Blogs gefällt mir gut. Auch, wenn es tatsächlich noch ein wenig unübersichtlich ist. Aber erstens sieht es bei mir in der analogen Welt genauso aus und zweitens hat es auch eine positive Seite: man findet ein paar Perlen aus dem vergangenen Jahr wieder.
    Den Jahreswechsel über habe ich kaum Sehnsucht gehabt. Da war genug zu tun. 😉 Aber ich bin froh, dass du jetzt wieder jeden Tag aus deinem Leben erzählst!
    Obwohl mein Zweitklässler eher mit dem Schreiben als mit der Mathematik kämpft, sieht es bei uns ähnlich aus, wie du es beschreibst. Auch meine Fünfjährige konnte schon immer gut alleine spielen, doch auch bei ihr nimmt es langsam kauzige Züge an. Kürzlich sagte sie: „Eigentlich ist das wie ein ganz langes Wochenende. Nur dass ihr fast keine Zeit habt.“ …

    Herzliche Grüße

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