Auf dünnem Eis
„Warum haben Sie sich den militanten Klimaschützern angeschlossen?“, fragt die Journalistin den an den Baum geketteten jungen Mann, der einst unter dem Decknamen „Der Fünfjährige“ bekannt geworden war.
„Ich glaube, alles begann mit diesem Film über den Klimawandel, den meine Mutter mir als Kind gezeigt hat. Danach gab es für mich kein zurück mehr.“
„Wie alt waren Sie da?“
„Fünf.“
„Das ist aber sehr jung für dieses Thema.“
„Ich glaube, meine Mutter hatte das so auch nicht geplant.“
Ich habe es schon wieder getan. Ich habe mein Kind traumatisiert. Die Siebenjährige war zu einem Geburtstag eingeladen gewesen und der Fünfjährige nicht (mal wieder). Friedolin und ich hatten viel zu tun (mal wieder) und der Fünfjährige saß etwas unglücklich vor seinen Kapla-Klötzen und wusste nichts mit sich anzufangen.
„Weißt du was?“, sagte ich verschwörerisch. „Du darfst heute ausnahmsweise mal allein einen Film gucken.“
Sein Gesicht hellte sich schlagartig auf. Unsere Kinder sehen so selten Filme, das machte den verpassten Geburtstag allemal wett.
„Darf ich selbst aussuchen?“, fragte er. Sonst muss er immer mit seiner Schwester rumdiskutieren und am Ende gucken sie doch Shaun das Schaf. Aber der Fünfjährige liebt Natur- und Wissensfilme.
„Klar, du suchst aus!“, sagte ich und klappte meinen Laptop auf. Wir klickten uns durch das Online-Angebot des Kinderkanals, das war ihm aber zu öde. Er wollte einen richtigen Naturfilm. Also wechselte ich zur ARD-Mediathek und Erlebnis Erde.
„Das da!“, rief er aufgeregt und zeigte auf ein Bild von Rentieren und einem Schlitten im Schnee. „Das will ich gucken.“ Wir hatten gerade „Grischka und sein Bär“ gelesen, der auch mit seinem Rentier durch die verschneite Tundra zieht. Vielleicht hätte es mich stutzig machen sollen, dass die Dokumentation „Rentiere auf dünnen Eis“ hieß. Aber ich war in Gedanken bei meinem Abgabetermin und hatte ihm ja versprochen, dass er aussuchen darf.
„Viel Spaß“, sagte ich, nachdem ich die ersten Minuten zur Sicherheit dabei geblieben war, gab ihm einen Kuss auf den Kopf und verließ das Zimmer. 45 Minuten später stand der Fünfjährige vor mir.
„Und, wie war der Film?“, fragte ich.
„Gut, aber auch ganz schön aufregend.“
Das fand ich zunächst nicht weiter verwunderlich. Er findet auch Shaun das Schaf so aufregend, dass er die gesamten sieben Minuten einer Episode ununterbrochen auf und ab springt und dabei quietscht und jubelt. Als er aber beim Abendessen ungewöhnlich still war und schließlich leise fragte:
„Mama, wie kann man denn die Erde wieder kälter machen?“, schrillten meine Alarmglocken.
„Hat das was mit dem Film zu tun?“, fragte ich vorsichtig.
Er nickte unglücklich. Und erzählte von den Rentieren, die nicht mehr zu ihren Weidegründen können, weil sie im Eis einbrechen. Von Eisbären, die vor Hunger in die Städte drängen.
„Wie hieß der Film?“, fragte Friedolin und holte sein Handy. Dann las er die Laudatio des Wild Media Awards für den Film vor: „Der Film zeigt anhand verstörender Bilder die Auswirkungen des Klimawandels auf Rentierhirten und die Natur Sibiriens.“
„Das stand in der Mediathek aber nicht“, sagte ich kläglich und musste an meinen Klassenkameraden denken, den seine Mutter als Kind vor „Watership Down“ gesetzt hatte, weil sie dachte, das sei ein niedlicher Kaninchen-Film. Und daran, wie meine Schwester und ich getrennt voneinander „Die kleine Meerjungfrau“ geschaut hatten, in der Originalversion ohne Happy End, und wie meine Mutter im Anschluss ein heulendes Kind auf dem Schoß und ein heulendes Kind am Telefon beruhigen musste. Aber das waren ausgedachte Geschichten. Der Fünfjährige hatte etwas sehr reales und daher umso beängstigenderes gesehen. Er sah mich aus großen Augen an. Und ich wusste, das einzige, was ihm jetzt helfen würde, wäre die Gewissheit, etwas tun zu können. Nicht hilflos vor der Bedrohung zu stehen. Also sagte ich:
„Du tust schon ganz viel, damit die Erde wieder kälter wird. Du isst kein Fleisch. Du fliegst nicht mit dem Flugzeug. Du fährst ganz viel Fahrrad. Du kannst stolz auf dich sein, dass du der Erde so viel hilfst.“
Er atmete erleichtert auf und biss in sein Brot. Aber ich wusste, dass ihn das Thema noch lange beschäftigen würde. Vielleicht sogar für immer.