Corona-Chronik

Übergang im Stillstand

Eigentlich hätte er der Große sein sollen und jetzt ist er doch wieder nur der Kleine.
Im Kindergarten wäre der Fünfjährige zur Zeit ein Vorschulkind, einer von den Großen mit besonderen Rechten und Pflichten. Er wäre ein Vorbild für die Kleineren, dürfte allein zum Spielen auf das Außengelände und an besonderen Ausflügen für die „Schulis“ teilnehmen: in die Stadtbibliothek, zu Schnuppertagen in die Grundschule, ins Kindertheater. Das alles findet wegen Corona nicht statt.
Dieses Jahr wäre für den Fünfjährigen ein wichtiges Jahr gewesen. Ein Jahr des Übergangs vom Kindergartenkind zum Schulkind. Statt dessen ist er seit dem 16. Dezember zu Hause. Im Schatten von zwei Erwachsenen und einer großen Schwester.
Zu Hause ist er der, mit den kürzesten Beinen. Der einzige, der noch nicht lesen oder Schleife binden kann. Er ist derjenige, der beim Abendessen den Witz nicht versteht oder das Trinkglas umkippt, der am längsten zum Anziehen braucht und schüchtern Fremden gegenüber ist. Ich kann mit ihm zur Vorbereitung auf die Schule Aufgaben zur Entwicklung seiner Feinmotorik machen, Schwungübungen und Mengenerfassung, ich kann mit ihm puzzlen und basteln und Lieder lernen, aber ich kann ihm nicht gleichaltrige Kinder ersetzen. Neben mir ist er immer der Kleine. Immer häufiger ist er verzweifelt, wütet oder weint, weil mal wieder beim ihm etwas nicht funktioniert, das uns Großen so leicht von der Hand geht.
Gestern stand er weinend auf dem Hof unseres Nachbarn. Wieder einmal hatte er beim Verstecken-Abklatschen-Spiel mit seinen kurzen Beinen gegen die Siebenjährige und ihre Freundin verloren. Immerhin durfte er überhaupt mitspielen, seid diesem Lockdown mit strengen Kontaktbeschränkungen sind Spielverabredungen Mangelware. Da tippte ihm unser Nachbar von hinten auf die Schulter. Und gab ihm wortlos zu verstehen, ihm zu folgen. Er öffnete die Tür seines Treckers und der Fünfjährige kletterte hinein. Dann fuhr er mit unserem Nachbarn freudestrahlend davon. Als sie kurze Zeit später auf den Hof zurück kehrten, durfte der Fünfjährige eine Runde den Traktor steuern, unter den neidvollen Blicken der großen Mädchen. Danach sprang er überglücklich in Richtung Kaninchenstall davon. Unser Nachbar blickte ihm leise lächelnd nach, die Hände tief in seiner Arbeitshose vergraben, und ich dachte: Ein Superheld braucht wirklich kein Cape!

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