Nachhaltigkeit

Die Freiheit und die Tiere

Mein Backenzahn ist durchgebrochen. Als ich auf ein Stück Toast gebissen habe. Anscheinend haben sogar meine Zähne Ermüdungserscheinungen. Vielleicht war es auch ein Zahnmaterialfehler. Stellt sich die Frage, bei wem ich den reklamieren kann. Vermutlich am ehesten beim lieben Gott. Aber bei dem hänge ich seit Corona in der Warteschleife.
Die Siebenjährige hat sich sofort das abgebrochene Stück Zahn geschnappt.
„Das lege ich unter mein Kopfkissen. Vielleicht fällt die Zahnfee ja drauf rein.“
Im Auto auf dem Weg zum Zahnarzt höre ich sehr laute Musik, die weder ein rotes Pferd noch den Wunsch einen Schneemann zu bauen beinhaltet und denke: „Ach schön, kommste mal raus.“ Ein seltsames Gefühl von Freiheit stellt sich ein. So weit ist es schon gekommen, dass ich mir einen Zahn zerhauen muss, um mal etwas Zeit für mich zu haben.
Ich fahre an der Schweinemastanlage zwei Dörfer weiter vorbei. 4000 Schweine hinter Schloss und Riegel, nur der Gülle-Geruch verrät, dass dort Tiere eingesperrt sind. In unserer Region sieht man erstaunlich wenig Nutztiere. Die Bauern haben ihre Kühe abgeschafft, weil es sich finanziell nicht mehr lohnt. Mais, Zuckerrüben und Weizen sind hier die Devise. Ein Bauer im Dorf hat noch zwei Ziegen und einen altersschwachen Esel. „Damit die Kinder nicht vergessen, wie Tiere aussehen“, sagt er. Die Industrie hat die Tiere aus der Öffentlichkeit verbannt. Weil die Verbraucher lieber günstige Tierprodukte konsumieren, wenn sie nicht sehen müssen, wie die Tiere dafür gehalten werden. Wenn sie Kastenstände, Schnäbelkürzen, Spaltenböden, Anbinde- und Käfighaltung dank der idyllischen Bilder im Supermarkt verdrängen können. Früher war das Schwein ein hoch geschätztes Familienmitglied. Es wurde gehegt, gepflegt, liebevoll gefüttert und wenn es nach einem guten Leben geschlachtet wurde, gab es ein großes Fest. Früher wurden Katzenbabys zwar noch im Dorfweiher ertränkt und nicht mit sanft gegarter Putenleber gefüttert, dafür hatten die Nutztiere ein lebenswertes Leben.
Friedolin und ich sind 2011 vier Wochen mit dem Rucksack durch Rumänien gereist. In vielen Regionen wird dort noch immer Landwirtschaft wie bei uns im 19. Jahrhundert praktiziert. Die Tiere bewegen sich frei im Dorf. Die Pferde schlafen auf sandigen Wegen in der Sonne, die Kühe träumen unter dem Vollmond am Strand und die Esel machen regelmäßige Familienausflüge zur brennenden Müllkippe, um sich das Ungeziefer aus dem Fell zu räuchern. Ob die Tiere nicht weglaufen, hatten wir einen Bauern gefragt. „Nein, sie wissen genau, wann sie arbeiten müssen. Dann kommen sie freiwillig zurück zum Stall“, gab er zur Antwort.
Natürlich kann man 80 Millionen Menschen in einem so dicht bebauten Land wie Deutschland nicht auf diese Weise mit tierischen Produkten versorgen. Schon gar nicht, wenn wir weiterhin so gedankenlos und massenhaft konsumieren wie bisher. Die Forderung nach dem Sonntagsbraten steht schon länger im Raum. Und vielleicht muss es nicht jeden Morgen Latte Macchiato mit einen viertel Liter Milch sein. Immer, wenn ich an dieser Schweinemast vorbei fahre, frage ich mich, wie es sein kann, dass so viel staatliches Geld in einen Sektor fließt und gleichzeitig familiengeführte Bauernhöfe, die das Wohl ihrer Tiere und der Umwelt im Blick haben, aufgeben müssen, wie Großinvestoren Landraub betreiben können sowie Pestizide und Antibiotikamissbrauch unsere Gesundheit und die Umwelt massiv belasten. Das einzig Gute an Corona ist gerade, dass es unser Augenmerk auf die Arbeitsweise von Betrieben wie Tönnies lenkt.

Eine Tierwohlabgabe auf Fleisch, Wurst oder Milch wird diskutiert. Aber wie immer, wenn es um die Preise von tierischen Produkten geht, wird die „dann können sich die armen Leute das ja gar nicht mehr leisten“-Keule rausgeholt. Was ja völlig scheinheilig ist. Arme Menschen in Deutschland können sich auch keine Mieten in Großstädten mehr leisten oder die Klassenfahrt für ihre Kinder oder ein Auto oder eine Reise nach Mallorca. Das Problem ist doch eher, dass in unserem Land immer noch so viele arme Menschen leben und nicht, dass man ihretwegen Billigfleisch beim Aldi bereitstellen muss. Da könnte ich schon wieder mit den Zähnen knirschen. Aber eine zweite neue Krone kann ich mir gerade nicht leisten.

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