Radfahrer unerwünscht
Der Dorfbewohner geht eher 9 km besoffen zu Fuß, als dass er Fahrrad fährt. Sagen zumindest die Dorfbewohner. Nüchtern fährt er natürlich mit dem Auto. Wobei nüchtern ein denkbar dehnbarer Begriff ist. Zufußgehen und Fahrradfahren sind hier keine Fortbewegungsmittel sondern Hobbys, die niemand ins Freundebuch schreibt. Was das angeht, sind Friedolin und ich noch immer Großstädter. In der Stadt hatten wir jahrelang gar kein Auto. Wozu auch, wenn man für die Parkplatzsuche länger braucht, als für die eigentliche Fahrt. Als wir aufs Dorf zogen, haben wir uns geschworen, weiterhin alles mit dem Fahrrad zu machen. Bis ich das erste Mal mit unserer Tochter im Hänger zu unserem 4 km entfernten Kindergarten im Nachbardorf gefahren bin. Der Fahrradweg führt parallel an der Bundesstraße entlang, 90 cm Abstand zur Fahrbahn, keine Leitplanke. Wenn einem ein 40-Tonner mit Höchstgeschwindigkeit entgegen kommt, haut der Fahrtwind selbst mich fast vom Rad.
Als ich hier einmal mit dem Fahrrad zu einer Geburtstagsparty wollte, wurde vorher eine Telefonkette gestartet, ob diese verrückte Großstädterin nicht jemand mit dem Auto mitnehmen könne. Ich fuhr trotzdem mit dem Rad und wurde am Abend jedem Gast mit den Worten vorgestellt: „Das ist Wiebke, die ist mit dem Fahrrad gekommen“. Wenn ich hier Fahrrad fahre, komme ich mir immer vor, als würde ich etwas verbotenes tun. Aber seit eine Frau mit ihrem Auto von der Bundesstraße abgekommen und vor mir über den Fahrradweg ins Feld gebrettert ist, weiß ich, warum hier keiner Fahrrad fährt. Nicht umsonst wird unser Abschnitt der Bundesstraße auch Todesstrecke genannt, weil hier oft übermüdete Pendler von der Fahrbahn abkommen. Ich hatte das Verkehrsministerium höflich ersucht, ob man nicht eine Leitplanke zwischen Fahrradweg und Bundesstraße ziehen könne. Die Zuständigen kamen, zählten sieben Radfahrer pro Stunde und zuckten mit den Achseln: „Lohnt sich nicht“. Ich war erstaunt, dass überhaupt sieben Radfahrer unterwegs waren. Mein Einwand, dass hier kein Mensch Fahrrad fährt, weil die Fahrradwege lebensgefährlich sind, wurde höflich ignoriert. Die Klimawende findet nicht auf dem Dorf statt.
Leider haben sie nicht während Corona gezählt. Zur Zeit sind Heerscharen von Rentner auf ihren E-Bikes unterwegs. Sie brettern mit Höchstgeschwindigkeit durch die Feldmark, ihr Fahrtwind ist ähnlich fatal wie der eines 40-Tonners. Ich bin versucht ihnen „Sicherheitsabstand“ hinterher zu brüllen, wenn sie den Fünfjährigen fast über den Haufen fahren. Ob wegen Corona oder Verkehrssicherheit ist mir dann auch egal.