Gesellschaft

Staub der Geschichte

Wir spielen heute das Staubwisch-Spiel. Dazu verstecke ich schöne Knöpfe im Wohnzimmer an besonders staubigen Stellen und die Kinder machen sich mit Staubtüchern bewaffnet auf, um die Knöpfe zu finden. Manchmal ist auch ein Euro im Zimmer versteckt, an Stellen, die eigentlich immer vergessen werden. Die Kinder finden dieses Spiel ganz wunderbar. Und ich spare mir das Staubwischen. Die Idee dazu habe ich aus einem Buch, „Die Mädchenfamilie“ von Sydney Taylor. Ich habe dieses Buch als Kind geliebt und bestimmt 20 Mal gelesen. Es handelt von dem Leben der jüdischen Familie Pfäffling in New York um 1912. Wegen dieses Buches wollte ich als Kind zum Judentum konvertieren. Die Beschreibungen der jüdischen Bräuche waren so fesselnd, die Darstellung des innigen Familienlebens so liebevoll, ich wollte hinein springen in diese Familie, diesen Glauben. Damals wusste ich noch nichts vom Holocaust und von dem Trauma und der Bedrohung, mit denen jeder Mensch jüdischen Glaubens leben muss.
Ich wunderte mich als Kind, warum ich keine jüdischen Kinder kennen lernte. Warum ich noch nie eine Synagoge gesehen hatte. Gestern sagte die Publizistin Marina Weisband beim Holocaust Gedenktag im Bundestag: „In diesem Land ist es immer noch zu gefährlich für uns, sichtbar zu sein. Einfach nur Mensch zu sein, ist Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt. Einfach nur Mensch zu sein, bedeutet, dass jüdisches Leben in Deutschland unsichtbar gemacht wird.“
In der Schule lasen wir später Bücher wie „Damals war es Friedrich“ und „Die Welle“ und erfuhren viel über Geschichte und den Nahostkonflikt und wenig über jüdische Gegenwart in Deutschland. Und ich beobachtete, wie einige meiner Mitschüler einen Schutzwall gegen diese übermächtige Schuld um sich herum aufbauten, wie sie beim Besuch einer Gedenkstätte kichernd durch die Räume liefen, weil sie die Vergangenheit sonst erdrückt hätte. Für viele war es der erste Kontakt mit dem Judentum. Ich fragte mich damals schon, ob sie anders reagiert hätten, ob sie offener hätten sein können, wenn ihre erste Begegnung positiver Natur gewesen wäre.
In der Oberstufe fuhr ich auf Studienfahrt nach Israel, wo ich eine Woche in einer arabischen Familie im Norden und eine Woche in Jerusalem in einem Hotel wohnte. In der ersten Woche saß ich nachts mit meiner palästinensischen Gastfamilie auf ihrer Dachterrasse und hörte ihre Seite des Konflikts, in der zweiten Woche zog ich nachts mit jüdischen Soldaten um die Häuser und hörte die andere Seite. Ich versuchte, zu verstehen.
In meinen Zwanzigern führte ich viele Gespräche mit meinen Großeltern, die beide während des Nationalsozialismus schon junge Erwachsene gewesen waren. Sie und ihre Familien waren damals zwar nicht in der Partei, aber auch nicht im Widerstand. Sie haben in Einzelsituationen widersprochen, aber noch viel häufiger den Kopf in den Sand gesteckt. Ich las Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“, um zu verstehen, warum sie sich so verhalten haben. Es ist ja ein Leichtes, aus heutiger Perspektive zu verurteilen, zu sagen: Ich hätte mich damals aber anders verhalten. Ich bin ganz anders groß geworden, zum selbstständigen und politischen Denken erzogen worden und nicht wie meine 1914 geborene Großmutter zum Schweigen und Nicken und Hinnehmen. Es gab mir etwas Frieden, dass meine Großeltern die nationalsozialistische Ideologie verabscheut hatten. Aber es änderte nichts an dem Schatten und der Verantwortung, die ich auf meinem Deutschsein fühlte.
Dieser Tage wird wieder die Schlussstrich-Debatte geführt, frei nach dem Motto „Jetzt ist aber auch mal gut mit diesem Schuldkult der Deutschen“. Aber wie kann man einen Schlussstrich ziehen, wenn sich Juden in Deutschland immer noch verstecken müssen oder nur mit Sicherheitsschutz zum Gebet oder in den Kindergarten gehen können? Wenn Parolen auf Demonstrationen und Kommentare im Internet klingen, als wären sie 1933 geschrieben worden und nicht 2021? Geschichte ist kein Staub, den wir wegwischen können. Sondern etwas, das wir erzählen müssen, um daraus zu lernen.
„Antisemitismus beginnt nicht mit Gaskammern, er beginnt mit Verschwörungserzählungen“, sagte Marina Weisband gestern. Und die sind allerorts zu finden.
Ich werde der Siebenjährigen bald „Die Mädchenfamilie“ zu lesen geben. Ich möchte nicht, dass sie das Judentum nur über die Schuld kennen lernt. Sondern sich unbefangen einem lebendigen Glauben nähern kann, der sichtbarer Teil Deutschlands sein sollte und nicht nur etwas, das sie im Geschichtsunterricht kennen lernt. Damit sie später in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen und zu verstehen. Und zwar nicht, um von der Schuld erdrückt zu werden, sondern um gemeinsam Sorge zu tragen, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.

3 Kommentare

  • Edith pflug

    Liebe Wiebke,
    Deinen Artikel habe ich von Conny und finde ihn super wichtig. Am liebsten diese Gedanken und Vorgehensweise gleich im Lehrplan aller Schulen integrieren. Bin auch schon sehr gespannt auf die Mädchenfamilie.
    Alles Liebe, Edith Pflug

  • Conny Gruber

    Liebe Wiebke,
    du bist so eine kluge und besondere Frau. Immer geht mir das Herz auf ob der klaren Worte, die differenziert, aber nicht pauschal einordnen. Wie bewusst du deine Kinder an alles heranführst, vor vielem beschützst und abschirmst, aber auch mitnimmst, herausforderst und zumutest. Ich wünschte, viele Eltern würden das lesen und werde den Link mal wieder „streuen“.
    Hab mir das Buch „Die Mädchenfamilie“ gleich im Antiquariat besorgt.
    Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass es (bald) wieder Live-Auftritte geben kann. Haltet durch. Conny

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