Ritual am Abend
Die Kinder wollen nicht mehr allein einschlafen. Früher bestand unser Abendritual aus einer Geschichte-einem Lied-einem Kuss und dann ging ich aus ihrem Zimmer. Ich ließ die Tür noch einen Spalt offen und tippte extra laut auf meinem Laptop nebenan, bis sie endgültig eingeschlafen waren. Oft hörte ich sie streiten, weil der Fünfjährige auf seinem Hochbett beim Einschlafen gern Plopp-Schnalz-Pfeiff-und-Pups-Geräusche macht, um die Spannung des Tages abzubauen, die Siebenjährige im unteren Bett aber bei Plopp-Schnalz-Pfeiff-und-Pups-Geräuschen nicht einschlafen kann. Dann musste ich wieder rein und klarstellen, dass die Siebenjährige auch durchaus in ihrem eigenen Zimmer schlafen könne, das zur Zeit nur als Gästezimmer genutzt wird, weil sie dort ja ihre Ruhe vor Plopp-Schnalz-Pfeiff-und-Pups-Geräuschen habe, aber dann müssten halt BEIDE Kinder ALLEIN schlafen. Danach waren sie meistens mucksmäuschenstill und flüsterten inniglich. Für geschwisterlichen Frieden braucht es halt manchmal ein gemeinsames Feindbild. In diesem Fall die Dunkelheit und ich.
Friedolin hat sein eigenes Ritual, das aus einer Geschichte und dann so lang andauerndem Gequengel besteht, bis er noch eine kleine Geschichte erzählt und dann noch eine winzige Geschichte und dann noch eine Winzigkleineminigeschichte.
Eigentlich dürfen sich die Kinder den Inhalt der Geschichte aussuchen:
„Sie soll von einem Reh handeln“, sagt der Fünfjährige dann jedes Mal.
„Nein, nicht schon wieder ein Reh, sie soll von einer Elfe handeln“, sagt die Siebenjährige.
„Wenn sie nicht von einem Reh handeln darf, dann soll sie von nichts handeln“, sagt der Fünfjährige bockig und verkriecht sich unter der Bettdecke. Also erzählt Friedolin eine Geschichte von dem Nichts, das sich hinter der Tür des Kinderzimmers befindet, was die Kinder aber so gruselig finden, dass Friedolin noch eine kleine Geschichte erzählen muss und dann noch eine winzige Geschichte und dann noch eine Winzigkleineminigeschichte von einem Reh.
Aktuell lesen wir aber „Madita“, weil Friedolin und ich seit Corona zu fahrig sind, uns Geschichten auszudenken. Und wir dürfen nicht mehr aus dem Zimmer, bevor sie eingeschlafen sind. Die Unsicherheit der Tage kommt beim Einschlafen mit voller Wucht zum Vorschein. Ich singe dann oft mehrere Schlaflieder hintereinander, das beruhigt die Kinder und es beruhigt mich.
Laut Studien verlangsamen die sanften Klänge der Wiegenlieder nicht nur die Atmung und den Herzschlag der Kinder, sondern auch die des Vortragenden und wirken sich positiv auf das Immunsystem aus. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob man wie Ella Fitzgerald oder wie Milli Vanilli singt, ob man beim Text hilflos improvisiert oder einfach nur summt.
Da ich alle Schlaflieder gefühlt schon 1000 Mal gesungen habe, mische ich mittlerweile irgendwelche Balladen unter, deren Texte ich noch halbwegs zusammen kriege. Von Friedrich Hollaender bis Bernd Begemann, von Schubert bis zu den Beatles. Nur herzergreifend melancholisch müssen sie sein. Das aktuelle Lieblingsschlaflied der Kinder ist „Die Capri-Fischer“. Es hilft nur leider überhaupt nicht beim Einschlafen. Jedes Mal, wenn der Refrain kommt, erklingen zwei zarte Stimmchen aus der Dunkelheit: „Bella, bella, bella Marie, bleib‘ mir treu ich komm‘ zurück morgen früh‘ und steigern sich immer lauter und leidenschaftlicher bis zum finalen: „Bella, bella, bella, bella Marie, vergiss‘ mich nie.“ Dann bin ich gerührt und glücklich und spüre, wie der Tag von mir abfällt und ich ganz bei meinen Kindern bin, dass ich ihnen sogar ohne Gequengel noch „La-le-lu“ hinterher singe, um sie sanft und behütet auf dem Weg in ihre Träume zu begleiten.