Gesellschaft,  Kinder

Küssen verboten!

„Jungs küssen nicht“, pöbelt der Vater seinen dreijährigen Sohn an, der gerade seinem Freund einen Schmatzer auf die Wange drückt. Der Vater schaut hilflos in die Runde: „Das hat er gestern auch schon gemacht. Hör endlich auf damit“, schreit er und reißt den Jungen von seinem Freund weg. Der Junge guckt beschämt zu Boden. Die Umstehenden ignorieren den Vorfall gleichgültig oder peinlich berührt. Man könnte meinen, der Vater wolle seinen Sohn vor Corona schützen. Doch die Szene spielte sich beim letzten Nikolaus-Fest im Feuerwehrhaus ab. Zum Glück war unser Vierjähriger so damit beschäftigt, seinem Schoko-Nikolaus den Kopf abzubeißen, dass er nichts davon mitbekam. Er ist ein leidenschaftlicher Küsser. Ohne die vielen feuchten Küsschen unseres Sohnes wäre mein Leben deutlich ärmer. Wobei er Friedolin nie küsst, weil der so stachelt. Und seine Schwester darf er nicht küssen, weil die ihn latent unappetitlich findet. Er hat ständig klebrige, müffelnde Hände und eine verschmierte Schnute. Dank Corona hat er prompt ein Waschekzem bekommen. Seine Hände sind es einfach nicht gewohnt, so sauber zu sein. Bleiben umso mehr Küsse für mich.

Unser Sohn hat seine weibliche und männliche Seite perfekt ausbalanciert. Er liebt Glitzer und klärt Argumente gern mit Fäusten. Er trägt die abgelegten Kleider seiner großen Schwester und spielt dabei mit seinen Baggern im Sandkasten. Beim Kinderschminken wünscht er sich standhaft Schmetterlinge und Blumen, auch wenn die Frau mit der Schminke mehrfach nachfragt, ob er nicht doch lieber einen Teufel oder Spidermann auf der Wange hätte.

Wenn wir kleinen Jungs beibringen, dass sie alles sogenannt Weibliche in sich unterdrücken müssen, wie sollen sie da später ihren Frauen Respekt entgegen bringen?

Bei einem Gespräch äußerten ein paar Dorfmütter die Sorge, dass die heutige genderneutrale Erziehung die Kinder massiv verunsichern würde. Dabei war noch in den 80er-Jahren Unisex-Kleidung und Unisex-Spielzeug viel üblicher als heute. Und unser Umfeld behandelt die Kinder alles andere als genderneutral.

Wenn Besuch kommt, begrüßen sie unsere Tochter häufig mit den Worten: „Du hast aber ein hübsches Kleid an“. Und die erste Frage an unseren Sohn lautet oft: „Was hast du denn da Tolles gebaut?“ Obwohl er sich extra für den Besuch schick gemacht hat und sie auch was Tolles gebaut hat. Das ärgert unsere Kinder. Wobei jungenhaftes Mädchenverhalten gesellschaftlich eher akzeptiert ist als andersherum. Wenn unsere Tochter Fußball spielt: kein Problem. Wenn unser Sohn mit seinem Puppenwagen durchs Dorf schiebt: befremdete Blicke.

Neulich sah ich in der Drogerie Kinderduschgel im Regal. Das Blaue hatte coole Jungs mit Fußball oder Gitarren in der Hand abgebildet. Die rosa Variante zeigte Mädchen mit Handtäschen vorm Eifelturm posierend. Die Jungs konnten was, die Mädchen sahen hübsch aus. Gendermarketing ist kapitalfördernd, weil die Firmen Spielwaren, Schulzeug und Kleidung gleich zweimal verkaufen können: einmal für Mädchen, einmal für Jungs. Diese Zuschreibung zieht sich bis zu Kinderbüchern durch. Die Jungs erleben Abenteuer in der weiten Welt, die Mädchen putzen mit ihren Freundinnen zuhause die Pferde. Das finde ich zum Würgen. Unsere Tochter macht sich nichts aus Äußerlichkeiten. Sie möchte lieber dafür bewundert werden, was sie kann. Unser Sohn blüht hingegen auf, wenn man die Glitzerwolke auf seinem T-Shirt bemerkt.

Wenn er in der Pubertät immer noch die Kleider seiner großen Schwester tragen möchte, kann er zur Not ja nach Köln ziehen. Hauptsache ich bekomme weiterhin meine feuchten Küsschen.

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