Kinder

Hüte dich!

Die Siebenjährige muss sich gerade dreimal pro Tag umziehen. Das hat nichts mit modischer Unentschiedenheit zu tun. Sie hütet sich lediglich davor, in den Bach zu fallen. Das geht natürlich nur, indem sie über den Bach springt. An der breitesten Stelle. Wo die Brennnesseln wachsen. Außerdem hütet sie sich davor, in den brackigen Tümpel am Feldrand zu fallen. Das geht natürlich nur, indem sie sich an der steilsten Stelle entlang hangelt. Sie hat von Ronja Räubertochter gelernt, dass Kinder sich vor Gefahren nur dort hüten können, wo sie auch wirklich anzutreffen sind. Denn vor etwas, was gar nicht da ist, kann man sich nicht hüten.
Friedolin merkte an, dass sie vielleicht nur dort über den Bach springen sollte, wo sie auch sicher sein könne, nicht ins Wasser zu fallen. Die Siebenjährige und ich warfen uns unseren geheimen Papa-versteht-mal-wieder-gar-nichts-Blick zu. Da Friedolin nicht derjenige ist, der die schlammigen Klamotten waschen muss, braucht er sich da finde ich nicht einzumischen. Es wurde langsam Zeit, dass die Siebenjährige Abenteuer jenseits der behüteten Gärten erlebt.
Ich habe mich als Kind auch ständig vor etwas gehütet. Vom Garagendachfirst zu fallen, zum Beispiel. Um die Garagen wuchsen dichte Berberitzen-Büsche, die federten den Fall ganz gut ab. Oder ich hütete mich davor, mich im Wald zu verirren. Damit habe ich allerdings aufgehört, als ich einmal einen seltsamen Mann mit Pistole auf einem Baum hocken sah. Das war so verrückt, dass ich sogar meinen Eltern davon erzählte, was ich sonst lieber vermied, da sie die ganze Sache mit dem Sich-Hüten ebenfalls nicht verstanden. Das mit dem Erzählen stellte sich aber als vollkommen unnötig heraus, da sie die Angelegenheit mit dem Pistolen-Mann als Fantasie abtaten. Oder meinten, es wäre vielleicht ein Jäger gewesen. Dann stand in der Zeitung, dass sich ein entlaufener Verbrecher für Tage bei uns im Wald versteckt hatte. Wir hatten uns als Kinder auch davor gehütet, von Autos überfahren zu werden. Um das zu üben, sind wir immer direkt vor der Stoßstange von vorbeifahrenden Autos über die Straße geflitzt. Bis wir vor ein Auto liefen, in dem einer der Väter saß. Der seinem Sohn erst eine Ohrfeige verpasste und dann unsere Eltern informierte. Danach mussten wir uns eine neue Gefahr suchen, vor der wir uns hüten konnten. Vor dem cholerische Einsiedler am Feldrand zum Beispiel, in dessen Mauer Glasscherben eingearbeitet waren. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass wir die Siebenjährige ab heute einsperren sollten, bis sie volljährig ist.

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